Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 44. (1996)
MAYER, Kurt Albert: „We are on the Borderline of Civilization“. John Hay als bevollmächtigter Gesandter der Vereinigten Staaten in Wien (1867/68)
John Hay als Bevollmächtigter Gesandter der USA in Wien 1867/68 auch an den jungen Benjamin Franklin, der vor den ungläubigen Augen der Londoner in der Themse seinen Schwimmübungen nachzugehen pflegte. Der Weg zum Wasser führte ihn über den Tiefen Graben und Maria am Gestade zum Salzgries50. Eine endlose Woge polnischer Juden rollt durch diese schmutzige Straße und wird von kleinen Bächlein genährt, die vom Judenplatz und den Sackgassen dieser Gegend herunterlaufen - nicht laufen, sondern über das steile steinerne Bett der Schluchten heruntertropfen, die Fischerstiege, Marienstiege und Wachtelgasse heißen. Diese verwahrlosten Venen und Arterien von verarmtem und degeneriertem Blut faszinieren mich sehr. Ich habe in jenen kleinen Gäßchen und auf jenen schlüpfrigen Stufen nie eine annehmbar ausschauende Person gesehen. Aber überall gebückte, schmutzige Gestalten in langen, geflickten und ölig schwarzen Kaftanen aus jedem Material, das man sich nur vorstellen kann, die reichsten dabei meist die schäbigsten, weil am ältesten und am längsten getragen, die die buckelige, kriechende Gestalt von den hängenden Schultern bis zu den plumpen schlurfenden Füßen bedecken. Ein eingebeulter weicher Filzhut krönt das schiefe, träge, verschlagene Gesicht, und was das abstoßendste von allem ist, ein Paar schmieriger Locken baumelt vor den hängenden Ohren. Diese Gefallsucht von Scheußlichkeit ist besonders ekelhaft. Der alte Puritaner, der zu Barebones Zeiten über die „Reizlosigkeit der Liebeslocken“ geschrieben hat, hätte hier entweder die volle Bestätigung für seine Kritik erhalten oder hätte sich in Grausen von seinem Thema abgewandt. Was sie alle tun, ist ein Rätsel. Sie stehen nichtstuend apathisch im Sonnenschein oder versammeln sich in ruhigen oder geschwätzigen Dreier- und Vierergruppen, schnupfen Tabak und putzen sich im Chor ihre Hakennasen in zweifelhafte braune Taschentücher. Sie haben meine Vorstellung vom Juden von Grund auf über den Haufen geworfen. In Amerika sagen wir immer, reich wie ein Jude, weil, selbst wenn ein Jude arm ist, er so lebhaft, pfiffig und unternehmungslustig ist, daß er sicher einmal zu Geld kommen wird. Aber diese buckeligen Kerle sind so träge, wie sie häßlich sind. Es kam mir der Gedanke, daß es diese langen Mäntel sein mochten, die sie im Leben nicht hochkommen lassen, und daß die nächste Generation, wenn sie nur früh in normale, enganliegende Oberröcke steckt, zu recht tatkräftigen Zeitgenossen werden würden. Aber die Jesuiten haben in ihren langen Kutten die Welt bewegt. Ich glaube, daß der Fluch des Volkes auf diesen Kerlen ganz besonders lastet. Anscheinend ist ihnen das ganze Viertel untergeben, denn die kleinen, obskuren Geschäfte in den Sackgassen haben alle hebräische Schilder. Das war ein weiterer Schock für mich. Man denke sich nur, daß im Geschäft an der Ecke Talg und Zwiebel in den erhabenen und rätselhaften Buchstaben angepriesen werden, die einst in die Gesetzestafeln gemeißelt waren. Das habe ich heute früh gesehen. So groß die Abscheu vor dem unvermittelt Anderen war, so zog es ihn dennoch am selben Abend noch einmal zurück, um die befremdliche Gegend und ihre Bewohner noch einmal im Schutz der Nacht zu erkunden; und in der Tat stellte er fest, daß „der Schleier der Dunkelheit ... diese widerwärtigen Zungen gelockert hatte“51. Er walzte Vorurteile aus, so gut er konnte, und brachte dabei auch vom Hörensagen alles ihm Geläufige ein (wie den Mythos um Barbon oder Barebone[s], den englischen Puritaner und Parlamentsabgeordneten zu Zeiten der Cromwells). Daß die Tagebucheintragung im offiziellen Gedenkwerk so 50 Letters of Hay, Bd. 1, S. 327-329. 51 Ebenda, S. 329. - Eine eigenwillige Darstellung von Hays Antisemitismus gibt Clymer, Kenton: Anti-Semitism in the Late Nineteenth Century: The Case of John Hay. In: American Jewish Historical Quarterly 60/4 (1971), S. 344-354, der in den Tagebuchpassagen über Wien nicht Antisemitismus, sondern lediglich Gleichgültigkeit gegenüber Juden ausmacht und den späteren John Hay zum Philosemiten erklärt, weil er nicht den Antisemitismus seines Freundeskreises teilte. 211