Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 41. (1990)

HEPPNER, Harald: Serbien im Jahre 1889 nach einem Bericht Ludwig von Thallóczy's

Serbien im Jahre 1889 Der 27. Juni war eigentlich der Glanzpunkt aller Festivitäten. Das Re­quiem, die Grundsteinlegung des kossovoer Monumentes und die Ge­denkreden fanden diesen Tag statt. Wenn ich mir den Eindruck all’ dieser kirchweihartigen Momente ver­gegenwärtige, sehe ich nur die einzig sympathische Figur des kleinen Königs vor mir. Das war die einzige Persönlichkeit, welche unverdorbe­nen Gemüthes sich an den Ceremonien betheiligte. Und das Volk ju­belte dem stramm einher schreitenden Kleinen entgegen. „Er hat kei­nen Vater, keine Mutter, und beide leben“, sagten sich die Leute. „Herzi- ges Kind“ murmelten die Frauen. Das Menschliche regte sich in diesen rauhen Gemüthern, wozu man noch den Umstand nicht vergessen darf, dass diese Gegend den Obrenovicen immer zugethan war. Selbst König Milan hat hier noch immer Anhänger. Dynastisch sind diese Leute nicht im modernen Sinne, aber auch nicht die Demokraten, für welche sie sich ausgeben. Es ist eben kein Grund vorhanden, dieses Kind jetzt anzutasten; er ist der Herr, darin sind alle einig. Karagyorgye’s133) sammt Nikita sind hier verhasst, nicht einen Montenegriner sah ich; es war eben lustig zuzuhören, wie die Serben ihre Brüder „barbarische Hammeldiebe“ nannten. Das wollten sie schon, über Montenegro zu herrschen, umgekehrt aber, unter gar keiner Bedingung. Was an der ganzen Festivität aufflel, war die Präponderanz der Geist­lichkeit. Michail, der Metropolit, der durch die Skupstina134) zum Pa­triarchen erhoben werden soll, stand im Vordergründe. Ich kann nicht umhin, das Conterfei dieses „Boyoliten“ (wie man ihn hier nennt) nicht bei zu legen135). Michail ist kein Klosterpfaffe, wie man ihn hier sehr oft nennt. Er ist vom Schlage der alten Phanarschule136) in Stambul. Verschmitzt, im­mer salbungsvoll und zäh in seinem Interesse. Er will einfach in Ser­bien commandiren. König Milan durchschaute ihn sehr gut. Michail ist nicht Riszticsianer, nicht Russe - er ist Michail, der Metropolit. Die Gestalt ist gebrochen, aber bis [=solange] sein stahlgraues Auge glänzt, hat Serbien mit ihm als einem Faktor zu rechnen. Er ist, wie seine Ansprache beweist, Grosserbe, aber darum, weil er der Grosspfaff aller Serben sein will. Er gedachte Milans am 2. Juli, und wenn Milan ihm parirt, geht er getrost mit den Obrenovicen. Seine Karyatiden - Jeronim 133) Gemeint ist die mit den Obrenovici rivalisierende Dynastie der Karadordevici, zurückgehend auf Karadorde (1768-1817), den Führer der Serben im sog. Ersten serbi­schen Aufstand (1804-1813). Peter I. Karadordevic, 1889 im montenegrinischen Exil, wurde nach dem Tode Alexander Obrenovic’ 1903 serbischer König. 134) Volksvertretung im Königreich Serbien. 135) Befindet sich in der Beilage des Berichtes. 136) Phanar ist das Griechenviertel in Konstantinopel, wo sich bis heute auch der Sitz des griechisch-orthodoxen Patriarchats samt Schule befindet. 183

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