Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 41. (1990)
HEPPNER, Harald: Serbien im Jahre 1889 nach einem Bericht Ludwig von Thallóczy's
Harald Heppner Im Hintergründe dieser jetzigen Volksstimmung steht die großserbische Idee75), welche offen und verhohlen und unter den verschiedenen Formen propagirt wird. Wie es Leute gibt, welche bei jeder Ziehung eine Promesse kaufen, um den Haupttreffer zu gewinnen, so wird die großserbische Idee immer aufgeführt. Es ist so zu sagen zu einer Bauernregel geworden, Alles auf eine Karte zu setzen, um vielleicht Etwas zu gewinnen. Lüge, Lärm, Scandal und soi-disant Wissenschaft werden aufgeboten, um diesen politischen Blähzustand hervor zu rufen. In erster Reihe [!] handelt es sich um die occupirten Länder76), dann erst um Makedonien. Wegen Croatien und Südungarn - so versicherten mich die Conservativen - würde[n] sie eventuell noch handeln. Mit schweren Herzen, aber man will dem sonst so gutherzigen Kaiser77 78) nicht sehr wehe tun. Die hier „ernsten“ Politiker wunderten sich sogar, wie man diese Forderungen für keck halten kann. Vorerst sagen sie, sind hierüber alle serbischen Parteien einig, dann aber ist ja die Vojvodina und Croatien nicht darunter gemeint. Warum hat Oesterreich dasselbe den Fortschrittlern nicht verboten? Im Grunde genommen sind aber alle Serben im Innersten ihres Herzens überzeugt, dass, wenn es zu Etwas76) kommen würde, sie trotz allen Versicherungen der Politik zur oesterreichisch-ungarischen Monarchie geschlagen werden: Und diese Aussicht ist für sehr viele verlockend, erstens [er]hoffen sie politische Vortheile, ferner wirtschaftliche, „und dann zweitens haben sie unter den Habsburgern Südslavien am Presentirteller“. Ich kann nur beim Andeuten dieses Umstandes bleiben, denn jetzt wird allgemein wegen Bosnien ein furchtbarer Lärm geschlagen. Es kann nicht geleugnet werden, dass diese platonische Idee für die occupirten Provinzen in letzter Zeit intensiver wurde; [der] Sveti Sava-Verein79), das mit Hetzartikeln gefütterte „höhere Volk“, Geistliche, die active und verjagte Beamtenschaft schiebt alles Übel Oesterreich und der Occupation in die Schuhe. Es hat also die Lust und die Bosnien occupirende Stimmung in tieferen Schichten schon Platz gegriffen. Aber die Form ist auffallend, wie man es wünscht. 75) Abgesehen von allen Varianten zielte die großserbische Idee darauf hin, die von den Serben bewohnten Länder wieder zusammenzufassen, wobei die daselbst lebenden Nichtserben entweder nicht zur Kenntnis genommen wurden oder zu Serben gemacht werden sollten. 76) Bosnien und die Hercegovina, seit 1878 von Österreich-Ungarn okkupiert. 77) Franz Joseph I. (1830-1916), Kaiser von Österreich, König von Ungarn. 78) Lösung der Orientfrage, Krieg, Revision der Grenzen. 79) 1886 gegründeter Verein zur Stärkung des serbischen Patriotismus, ursprünglich hauptsächlich für Makedonien gedacht. 1888/90 kam es zur Gründung eines Pensionats bzw. einer Schule für Serben des Auslandes. 174