Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 39. (1986)

AUER, Leopold: Historische Friedensforschung (Literaturbericht)

446 Literaturberichte Nun zu N’s Einschätzung von Österreich, die naturgemäß eng mit der deut­schen bzw. nationalen Frage zusammenhängt. Selbst wenn es eher kleinlich wirken mag, einzelne Fehler zu bemängeln, die bei einem derart umfangrei­chen Werk praktisch unumgänglich sind, so bleibt doch festzuhalten, daß bezüglich Österreichs nicht wenige Unrichtigkeiten zu konstatieren sind (die von der Kaiserwürde 1804, die von den Habsburgéin vor allem aus Furcht vor einem Verlust der deutschen Krone und nicht wegen deren Wertlosigkeit kreiert wurde, bis zum Geheimvertrag von 1866, welcher keineswegs Venetien von vornherein definitiv ab trat, reichen), — und dies rührt wohl auch daher, daß N., ungeachtet des Umstands der wiederholten Distanzierung von überzogener borussophiler Historiographie, doch stark von dieser gezehrt hat und latent kleindeutsch eingestellt ist (was sich auch an seiner Vorliebe für Treitschke- zitate zeigt) und für alternative Geschichte zwar manchmal Lippenbekenntnis­se ablegt, im Grunde jedoch die Entwicklung gutheißt und sich mit ihr identifi­ziert. War am Anfang Napoleon, so jedenfalls am Ende Bismarck, selbst wenn es nicht explizit formuliert wird. Das Dritte Deutschland wird kaum erwähnt, der Deutsche Bund ganz traditionalistisch beurteilt, und nach 1848 ist auch von Österreich kaum mehr die Rede. Dem Habsburgerreich begegnet N. mit gewohntem preußischen Unverständnis, seiner wird bloß als eines „dynasti­schen Kunststaates“ (S. 86) Erwähnung getan, wogegen Preußen wieder ganz deutlich nicht so ein „altmodisches Staatenkonglomerat“ (S. 331) war. Preußen selbst war nicht zuletzt von anderen, auf dem Wiener Kongreß, einer „Spaltung in eine Ost- und eine Westhälfte“ unterworfen worden, es ging danach (quasi nur) darum, „diese Spaltung“ - die doch eher als eine enorme Vergrößerung zu charakterisieren wäre - „zu überwinden“, und das Streben nach Hegemonie war „von daher fast eine Notwendigkeit“ (alles S. 91). So einfach ist das zu begründen und gutzuheißen. Damit ist auch die Tendenz zur Bildung von Nationalstaaten erreicht, die nicht näher legitimiert zu werden braucht, weil sie sich als Produkt der Zeit darstellt: „Die Realität der Länder und Nationen und die wachsenden Nationalismen waren stärker als die Fiktion des überna­tionalen Staates“ (S. 678), und dann wird die Zwangsläufigkeit der Entwick­lung dekretiert, die nur zu bestreiten ist, „wenn man den Nationalstaat für eine historisch überspringbare Form der politischen Existenz hält“ (S. 709). Mit dieser Äußerung hat N. gewiß die historische Entwicklung auf seiner Seite, die allerdings in ihrer Eurozentriertheit herauszustellen wäre: Denn wo, außer in Europa (und auch da müßte man die Schweiz, Belgien, Jugoslawien ausnehmen und auf die bis heute keineswegs ganz zum Verschwinden gebrachten Minder­heiten in zahlreichen Staaten einschränkend hin weisen), gibt es denn solche Nationalstaaten? Widerspricht nicht die UdSSR dieser Behauptung, kann man tatsächlich den afrikanischen Raum so klassifizieren, ist die arabische Welt von Nationen geprägt, gibt es in Asien (etwa) eine indonesische Nation und entzieht sich nicht der durch Immigration zu Staatsbildung gekommene ameri­kanische Kontinent grundsätzlich dieser Einstufung? N. aber entledigt sich Österreichs und seiner Problematik in Übereinstimmung mit den dominieren­den Kräften der Zeit, wie er meint: „das liberale Rezept des Parlaments paßte kaum auf dieses österreichische Problem und mußte fast sicher desintegrierend und staatssprengend wirken“ (S. 338). Hier werden Vorurteile wiederaufge­wärmt und der Reichstag von Kremsier mit seinem sehr wohl funktionsfähig gewesenen Modell einer parlamentarischen multinationalen Existenz igno­

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