Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 37. (1984)
SUTTER, Berthold: Machtteilung als Bürgschaft des Friedens. Eine Denkschrift des Botschafters Heinrich von Calice 1896 zur Abgrenzung der Interessensphären zwischen Rußland und Österreich-Ungarn am Balkan
312 Berthold Sutter „als ein wesentlicher Schritt nach vorwärts auf dem Wege der konkreten Annäherung gekennzeichnet zu werden“. Sie habe mehr einen „grundlegenden Charakter“ gehabt und „zunächst die Aufklärung mancher noch dunkler Punkte sowie die Feststellung des Rahmens“ bezweckt, „innerhalb dessen sich die weiteren, präzisen Verhandlungen zu bewegen hätten“. Übereinstimmung - so schien es - wurde in vier Punkten erzielt, von denen der letzte besagte, „daß für Rußland die Bestimmungen des Pariser Vertrages hinsichtlich Konstantinopels und der Dardanellen ebenso ein noli me tangere bilden“ wie für Österreich-Ungarn „das Besitzrecht auf Bosnien und die Herzegowina und das Prinzip der unbedingten Sicherung Albaniens gegen fremde Beschlagnahme“ 32). Über den Ablauf der Konferenz sind wir nur durch das informiert, was Graf Murawiew dem russischen Botschafter Graf Kapnist und dieser wiederum während seines Aufenthaltes in St. Petersburg Mitte Mai dem k. u. k. Botschafter Prinz Liechtenstein erzählte, der mit dem Grafen Kapnist mehrfach zusammenkam, um eine zustimmende Antwort auf jene Depesche zu betreiben, in der Goluchowski das Ergebnis der Übereinkunft zusammengefaßt hatte. Nach dieser Schilderung hatten bei der Konferenz der beiden Monarchen in Anwesenheit ihrer Minister zuerst Kaiser Franz Joseph, sodann Graf Goluchowski gesprochen. Zu dem von diesem vorgetragenen Exposé hat Graf Murawiew geschwiegen. Die beiden Monarchen aber reichten sich - unter Konstatierung gleicher Auffassung und Intentionen - zuletzt die Hand33). zu schriftliche Abmachungen? Wenn man sie nicht halten will, dann nützen sie ohnehin nichts“. Mit solchen Worten hat Goluchowski vermutlich seine eigene Enttäuschung überspielt. Er war sich des Nachteiles bewußt, daß es nicht sofort zu schriftlichen Festlegungen gekommen war. 32) HHStA PA I 474, geheim XXXII/b; hier auch das handschriftliche Résumé Golu- chowskis. - Interessant die inhaltlichen Abweichungen und Auslassungen in den jeweils an die k. u. k. Botschafter, resp. Gesandten in Paris, London, Bukarest, beim Vatikan, Petersburg, Berlin und Rom im Zusammenhang mit den St. Petersburger Abmachungen gerichteten Weisungen. In einem Vortrag vom 20. Oktober 1898 faßte Goluchowski für Kaiser Franz Joseph aus gegebenem Anlaß „das Wesen des Übereinkommens“ nochmals zusammen. - Heinrich Graf von Lützow, in den Jahren 1904 bis 1910 k. u. k. Botschafter am kgl. italienischen Hof in Rom, berichtet in seinen Lebenserinnerungen, Graf Goluchowski habe ihm gegenüber öfters von dem Kaiserbesuch 1897 gesprochen und „gerne“ erzählt, „wie Kaiser Nikolaus nach Beendigung der offiziellen Konferenzen ihn zu sich habe bitten lassen“ und zu ihm gesagt habe: „Maintenant causons, comme causent entre eux deux gentilshommes. Puis-je réellement compter dessus, qu’une nouvelle ere va s’ouvrir, oü il n’y aura plus d’intrigues, plus de tiraillements, plus de coups d’épingle? Donnez- moi votre parole, et je vous assure que vous pouvez compter sur moi absolument et sans hesitation“. Dabei habe ihm der Kaiser „mit seinem treuherzigen Ausdruck unverwandt in die Augen“ geblickt: Heinrich Graf von Lützow Im diplomatischen Dienst der k. u. k. Monarchie. Mit einer Einleitung von Reinhard Wittram. Hg. von Peter Hohenbalken (Wien 1971) 95. 33) HHStA PA 1474, Bericht n. 26 des Prinzen Liechtenstein, streng geheim, von 1897 Mai 18 (6). Vgl. Robert Paula Der Einfluß Kaiser Franz Josephs auf die Außenpolitik der Monarchie mit besonderer Berücksichtigung der Orientpolitik (ungedr. phil. Diss. Wien 1952). - Zur Auffassung des Prinzen Liechtenstein, der am 28. Oktober 1894 Botschafter in St. Petersburg geworden war, ungemein aufschlußreich sein an Goluchowski gerichte-