Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 37. (1984)
SUTTER, Berthold: Machtteilung als Bürgschaft des Friedens. Eine Denkschrift des Botschafters Heinrich von Calice 1896 zur Abgrenzung der Interessensphären zwischen Rußland und Österreich-Ungarn am Balkan
310 Berthold Sutter ten gedachte und der von Goluchowski, im Zusammenwirken mit dem Grafen Kapnist, aber auch durch interne Besprechungen bestens vorbereitet wurde. Von der Wichtigkeit dieser Kaiserbegegnung in St. Petersburg überzeugt, hat Freiherr von Calice am 20. April 1897 dem Grafen Goluchowski seine Wünsche für einen Erfolg des Besuches ausgesprochen28). Er hielt ihm nochmals vor, daß der Entrevue „eine ganz hervorragende Wichtigkeit“ beigelegt werden müsse und diese „einen welthistorischen Charakter“ annehmen könnte. Daß dies nicht der Fall war, weil einerseits die „materielle Zeit“ für schwerwiegende detaillierte Verhandlungen in St. Petersburg fehlte und andererseits sich Goluchowski trotz der Denkschriften des Freiherrn von Calice und des Generalstabchefs Baron Beck29) mit allgemeinen Wendungen begnügte, gehört zur Tragödie der österreichisch-ungarischen Außenpolitik. In seinem persönlichen Schreiben an Goluchowski vom 20. April 1897 hatte Calice massiv gedrängt: Die Verhältnisse würden immer schwieriger, bei dem Anwachsen der Probleme, „die fort und fort an die Tagesordnung“ kämen, werde es immer fraglicher, ob der seiner Natur gemäß „bestenfalls schwerfällige Apparat des europäischen Accords“ sie rechtzeitig lösen könnte. Die Probleme, um die es sich handle, seien zumeist solche, die nur die beiden Nachbarn Österreich-Ungarn und Rußland angingen und die „durch die Einmischung des westeuropäischen Liberalismus nicht gewinnen“ würden. Er finde überhaupt, daß diese Fragen vom Gesichtspunkte Österreich-Ungarns „nicht gewinnen“ könnten, wenn Italien den montenegrinischen Schwiegersohn zu unterstützen beginne oder über Albanien seine Propaganda ausbreite, wenn Frankreich mit Serbien und Bulgarien liebäugle und gewissermaßen im Gefolge der russischen Interessen einen eventuell die k. u. k. Monarchie „sehr hindernden Einfluß“ ausübe, wenn England hie und da schüre, um seine Interessen an anderen Punkten der Türkei zu fördern. Diese drei Mächte würden doch keinen Finger rühren, wenn es an Konstantinopel gehen sollte, und sie würden bei irgendeiner nachfolgenden Konferenz doch nur „mit großen Einschränkungen“ auf der Seite Österreich- Ungams stehen. Im Vereine mit ihnen werde es kaum eine den Interessen der Monarchie günstige Lösung der anstehenden Probleme geben. Es sei ein Verdienst, daß Graf Murawiew „unentwegt eine konservative Politik“ betreibe, die allerdings eine Art Gegenstück zu der „Geschmacksrichtung“ des russischen Botschafters in Konstantinopel bilde, der „mit den Orient-Interessen der alten moskovitischen Schule verwachsen“ sei und daher nicht abgeneigt wäre, „die Befreiung der Balkanvölker mit Ausnützung der humanitären und liberalen Ideen des Westens zum Vorteile des allmächtigen russischen Einflusses zu bewerkstelligen“. Im Gegensatz zu Nelidow besitze Graf Murawiew einen größeren politischen Horizont, scheine Murawiew „vielleicht weniger eine beschränkte slavische als eine russische Weltpolitik zu verfolgen“, in welcher das Verhältnis Rußlands zu den großen Nachbarmonarchien eine erhöhte 28) HHStA PA XII 168. 29) Sutter Um Österreich-Ungarns Großmachtstellung.