Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 37. (1984)

BREUNLICH, Maria: Die Jugend des Grafen Karl von Zinzendorf und Pottendorf (1739–1761)

156 Maria Breunlich „Als ich nun diese verlorne Gnade mir vor Augen stellte, so fiel mir ein (oder Jesu Gnade zeigte mir es vielmehr an), daß ich zuförderst die Botanik ganz lassen müßte, weil ich sähe, daß ich so durch dieselbe von Jesu abgezogen und zerstreuet würde, daß ich ganz kaltsinnig gegen ihn schon geworden sei. Da entstund ein Streit zwischen denen Sinnen und dem Geist. Die Sinnen wollten ihr größtes Vergnügen nicht gerne lassen, der Geist war in Angst, und um wieder in die vorige Seligkeit zu kommen, entschloß er sich auch in der ersten Hitze, das was ihn so sehr hinderte, gänzlich zu lassen“34). Typisch für den oft über seine Jugend Grübelnden ein Zusatz aus reifen Tagen: „Quelles discussions avec moi-méme! “3S). Die religiöse Überzeugung von Christiana Sophia Zinzendorf ist wohl der Grund dafür, daß die umfangreiche pietistische Literatur einen großen Anteil am Lesestoff ihrer Kinder hatte. Die Predigten, erbaulichen Abhandlungen, die Lieder- und Hymnensammlungen von August Hermann Francke, Johann Ja­kob Rambach und Johann Anastasius Freylinghausen standen neben der Bibel, die deutsch und hebräisch gelesen wurde, an erster Stelle. Diese Schriften wurden regelmäßig zur Hand genommen und bildeten das geistige Vademecum der Kinder. Außerdem wurden noch die Schriften Philipp Jakob Speners, des Begründers des Pietismus, seines Vorläufers Johann Arndt sowie die anderer Vertreter dieser religiösen Strömung wie Ernst Gottlieb Woltersdorf, Johann Albrecht Bengel, Samuel Lau oder Johann Porst gelesen, desgleichen die Werke des Württembergischen Pietisten Georg Konrad Rieger36). Zur theoreti­schen Untermauerung dieses größtenteils auf die Beeinflussung des prakti­schen religiösen Lebens gerichteten Schrifttums wurde den Kindern die Un­parteiische Kirchen- und Ketzergeschichte Gottfried Arnolds vorgelegt. Ar­nold war ebenso wie die bereits genannten Verfasser evangelischer Theologe und Kirchenlieddichter, er war aber auch Historiker, und seine Kirchenge­schichte, zwischen 1699 und 1715 verfaßt, gilt als erstes „folgerichtig aufge­bautes“ deutsches Geschichtswerk37). Außer der Kirchengeschichte Arnolds fanden die Allgemeine Kirchengeschichte und Geschichte des jüdischen Volkes des Dänen Ludwig Holberg im Hause Zinzendorf Verwendung38). Die Ge­schichte der Böhmischen Brüder De unitate Fratrum Bohemorum von Johann Comenius sprach Graf Karl mehr als die anderen kirchengeschichtlichen Werke an. Wie sehr der junge Mann versuchte, auch aus diesem Schrifttum Kraft für sein persönliches religiöses Leben zu schöpfen, zeigt eine Notiz im geistlichen Diarium: „Die Historie der böhmischen Brüder laß mir doch auch zu dem Endzweck lesen, zu einem rechten Emst im Christentum zu kommen, daß ich auch so die Welt verleugnen möge wie sie, dazu mir ja dein Abendmahl nutzen soll“39). 34) Tgb. 2: 1754 Juni 29. 35) Ebenda. 38) Die genannten Werke werden im Tagebuch zwischen 1752 und 1756 immer wieder erwähnt. 37) Lexikon der Weltliteratur, hg. v. Gero v. Wilpert (Stuttgart 1963) 82. 38) Tgb. 1: 1754 März 14, März 15 und 1755 November 17. 39) Tgb. 2: 1755 Dezember 5.

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