Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 36. (1983)

DIRNBERGER, Franz: Theaterzensur im Zwielicht der Gesetze (1918–1926)

254 Franz Dirnberger Gründen könne er trotzdem nur dann für die Beschwerde stimmen, „wenn das Abgehen von der früheren Entscheidung sehr scharf begründet wird“. Bei den Gegnern wandte Stefan Falser ein, daß der Sinn eines Gesetzes mit der Erhebung zum Staatsgrundgesetz seiner Meinung nach nicht verändert werde; vielleicht habe man damals beabsichtigt, jegliche spätere Abänderung zu erschweren. Die Aufhebung der Zensur könne schon deshalb nicht beab­sichtigt gewesen sein, weil die Regierung einen Antrag über die Kinozensur im Parlament eingebracht habe. Zu diesem Antrag erklärte jedoch Eisler, daß im Nationalrat die Ansicht vorherrsche, für ein derartiges Gesetz sei eine */3 Mehrheit erforderlich. Auch Dr. Max Layer bestritt, daß der Beschluß von 1918 durch die Erhebung zum Verfassungsgesetz eine neue Situation ge­schaffen habe. Schließlich war es noch Karl Pawelka, der die Bedeutung der Beschwerdeschrift herabspielte. Es habe ein Verein für seine Mitglieder um die Aufführungsbewilligung angesucht. „Der Verein sei kein Unternehmer, der ohne besondere Billigung Theatervorstellungen außerhalb des Kreises seiner Mitglieder veranstalten könne; daher liege keine Verletzung der Zensurfrei­heit vor“ und wäre die Beschwerde schon deshalb abzuweisen. Dem Argument widersprach Kelsen mit dem Hinweis, daß die Behörden eine prinzipielle Ent­scheidung gefällt hätten. Bei der Abstimmung errangen die Vertreter einer Beschwerde-Stattge- bung (Austerlitz, Eisler, Kelsen) mit Sylvester, der sich ihnen schließlich anschloß, die Mehrheit von vier gegen drei Stimmen (Falser, Layer, Pa­welka). Der nunmehrige Vorsitzende, Vizepräsident Dr. Adolf Menzel, 1919 Stellvertreter des Vorsitzenden, enthielt sich jeglicher Stellungnah­Die relativ kurze Urteilsbegründung verwies darauf, daß der Beschluß von 1918 nach seiner Erhebung zum Verfassungsgesetz anders zu bewer­ten sei als vorher und damit das Erkenntnis vom 16. Dezember 1919 nicht mehr haltbar wäre. Verschiedene administrative Maßnahmen, die im Zuge des Ausnahmezustandes notwendig waren, seien inzwischen be­seitigt worden, sodaß der Rechtssatz nicht mehr so verstanden werden könne wie 1919. Überdies war dem Gesetzgeber von 1920 das Erkenntnis von 1919 bekannt, und er nahm trotzdem diesen Beschluß, insbesondere Punkt 1, als Verfassungsgesetz auf. Somit war erst mit dem Inkrafttreten des Bundesverfassungsgesetzes die rechtliche Grundlage für eine all­gemeine Zensurfreiheit gegeben. Freilich war auch diese Entscheidung eine fragwürdige Angelegenheit. Sie kommt zunächst, obwohl das Abstimmungsverhältnis dann doch ein­deutig war, in der zwiespältigen Haltung Dr. Sylvesters zum Ausdruck. Ein Blick in den Gerichtsakt beweist, daß man offenbar mit einem nega­tiven Urteil rechnete. Denn es findet sich neben den bereits erwähnten Schriftstücken ein Konzept, dem eine negative Entscheidung zugrunde gelegt war. Sollte diese Vorarbeit auf reinem Zufall beruhen? (Im Ge­richtsakt des Jahres 1919 findet sich kein Gegenstück für den Fall einer positiven Entscheidung.) Schließlich hielt sich das Echo auf die Verlaut­barung der völligen Zensurfreiheit in Grenzen. Der Erleichterung und Euphorie des ersten Augenblicks folgte sehr bald die Ernüchterung. Die

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