Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 36. (1983)

DIRNBERGER, Franz: Theaterzensur im Zwielicht der Gesetze (1918–1926)

252 Franz Dirnberger Im Jahre 1925 beabsichtigte die Ortsgruppe Linz des Freidenkerbundes Österreichs die Aufführung von Karl Ander’s Stück Das Weib des Prole­tariers 60). Dieses Stück lief in Wien und Niederösterreich, ohne daß es zu einer Beanstandung kam. Die oberösterreichische Landesbehörde hatte Bedenken gegen die Aufführung, welche vom dortigen Beirat geteilt wurden. Die Aufführungsbewilligung wurde daher nur bedingt ausge­sprochen, das heißt nur für jene Orte, in welchen sich Ortsgruppen des Vereins befanden, weiters nur für Vereinsmitglieder und geladene Gäste sowie erst nach Streichung gewisser Stellen im Text. Als sich die Ortsgruppe Linz gegen diese Entscheidung an das Bundes­kanzleramt, Abteilung Inneres, wandte, verwarf dieses den Rekurs wegen der angesprochenen moralischen und religiösen Bedenken. Da der Orts­gruppe die Begründung „äußerst mangelhaft und in allgemeinen Wendun­gen gehalten“ erschien, reichte sie durch den Rechtsanwalt Dr. Paul Grünberg in Wien eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof ein. Zur Diskussion standen nicht die von der Zensur beanstandeten Stellen des Manuskriptes, das der Beschwerdeschrift beigelegt wurde; hiefür war der Verfassungsgerichtshof „nicht das geeignete Forum“. Man beschwer­te sich vielmehr „wegen Verletzung verfassungsmäßig gewährleisteter Rechte“. Es sei zwar zweifelhaft, ob Artikel 13 des Staatsgrundgesetzes von 1867 auf theatralische Aufführungen angewendet werden könne; mit Artikel 149/1 Absatz 2 (unter anderem betreffend die freie Meinungs­äußerung) des Bundesverfassungsgesetzes von 1920 erscheine jedoch der genannte Artikel 13 in erweiterter Fassung — gemäß dem Beschluß vom 30. Oktober 1918, demzufolge „jede“ Zensur als rechtsungültig aufgehoben worden war — rezipiert. „Jede“ Zensur könne sich nicht allein auf die Pressezensur beziehen. Vor allem müsse ein „Gesetz eine den Zeitver­hältnissen entsprechende Auslegung finden, mag auch eine solche Ausle­gung der bei der Schaffung des Gesetzes bestandenen Absicht des Ge­setzgebers konträr zuwiderlaufen. Da in gegenwärtig herrschenden Zeiten jede Zensur als ein unangenehmer, lästiger und drückender Zwang emp­funden wird, wird auch Punkt 1 des obzitierten Beschlusses der provi­sorischen Nationalversammlung die allgemeinste Auslegung finden müs­sen.“ Die Beschwerdeschrift verwies abschließend auf inzwischen er­schienene wissenschaftliche Arbeiten, die diese allgemeinste Auslegung bestätigten51). 50 * 50) Das Folgende aus Vf GH B 74/25; IA (exakt: Bundeskanzleramt-Inneres) ZI. 125220 ex 1925. si) Namentlich genannt wird Adolf M e r k 1 Die Verfassung der Republik Deutsch-Österreich (Wien—Leipzig 1919) 183; im „Tatbestand“ des Erkenntnisses wird ferner genannt Hans Kelsen österreichisches Staatsrecht. Ein Grund­riß entwicklungsgeschichtlich dargestellt (Tübingen 1923); hier heißt es S. 59: „Da sich der Wortlaut des Beschlusses gegen jede Zensur richtet, kann darunter auch die Theater- und Kinozensur verstanden werden, was allerdings der Absicht der Gesetzgeber nicht entspricht.“

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