Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 34. (1981)

BOSMANS, Jac: Ausländische Präsenz in Österreich während des Genfer Sanierungswerkes 1922–1926

Ausländische Präsenz in Österreich 1922-1926 311 jetzt, daß man den Präsidenten ersetzen werde. Franckenstein sah darin die einzige Möglichkeit, die Verbindung mit London wiederherzustellen93). Daß der Präsident das Vertrauen Normans verspielt habe und daß seine Position deshalb dem Wohl Österreichs geopfert werden solle, war auch die Meinung von Jan van Walré de Bordes, und diese Meinung teilte man in Genf. Braun­eis erschien als die geeignete Person für die Nachfolge94). Auch Zimmerman stimmte dem zu, sein Mitarbeiter Pierre Quesnay aber, der, so stellte sich heraus, gut informiert war, vertrat einen anderen Standpunkt. Die Regierung hegte nämlich den Plan, statt Brauneis Kienböck, der inzwischen als Mini­ster zurückgetreten war, oder Gürtler, den ehemaligen Finanzminister der Inflationszeit, als Nachfolger zu bestimmen, damit sich die Christlichsoziale Partei von einem möglichen Kandidaten für das Kanzleramt befreien könne. Von London aus wurde Redlich empfohlen, der letzte Finanzminister des Kaiserreiches. Quesnay sah in diesem keinen Finanzexperten und hielt Brauneis für einen großen Opportunisten, zu schwach, um London Paroli bieten zu können, - eine Einstellung, die nach der Meinung von Van Walré de Bordes gerade für ihn sprach. Außerdem war die Gesinnung Zimmermans dem Präsidenten gegenüber für zahlreiche Politiker der einzige Grund, die schützende Hand über Reisch zu halten. Deshalb hielt Quesnay es für besser, alles beim alten zu lassen95). Van Gyn schließlich war der Meinung, daß der Präsident nicht mehr nach London gehen solle, weil er Dinge sage, die nur Ärgernis erregen und nicht verstanden würden, - und dies vor allem wegen seiner mangelhaften Kenntnis der englischen Sprache. Künftig werde Braun­eis, der geeigneter sei, den Kontakt mit London besorgen96). Zu einer Ent­lassung Reischs kam es jedoch nicht. Im März 1925 erschien Reisch wieder in London, wo unter anderem eine neue Diskontsatzsenkung zur Sprache kam. Es gab immer noch Meinungsdif­ferenzen, und der Kontakt wurde beinahe wieder abgebrochen. Norman warf dem Präsidenten das Verkaufsgeschäft des Sterlings aus dem Jahr 1923 als Beweis für dessen mangelnde Bereitschaft zur Mitarbeit vor; und deshalb empfinde der Gouverneur auch kein Bedürfnis nach Zusammenarbeit mehr. Reisch wollte jetzt endgültig zurücktreten; er hatte keine Lust mehr, bei je­dem Besuch in London getadelt zu werden97). Aber soweit sollte es auch diesmal nicht kommen. Im April 1925 wurde eine Senkung des Diskontsatzes auf 11 Prozent bekanntgegeben, und einige Zeit später waren, so schien es, die Beziehungen zwischen London und Wien neu­erlichen Belastungen ausgesetzt. Die Presse wandte im Mai ihre Aufmerk­93) HHStA NPA 40: Franckenstein an Mataja, 1924 Dezember 14. 94) S60 n. 6 24-27: Van Walré de Bordes an Quesnay, 1925 Januar 8 (versehentlich datiert mit 1924 Januar 8). 95) Sill 2/19/4: Quesnay an Van Walré de Bordes, 1925 Januar 10 (versehentlich datiert 1924 Januar 10). 96) C9 5/2c: Van Gyn an Zimmerman, 1925 Januar 9. 97) S59/London Meetings March 1925: Van Walré de Bordes (?) an Salter, 1925 März 20.

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