Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 32. (1979)
FORST-BATTAGLIA, Jakub: Die Orientfrage in den Jahren 1875–1878 und das Dilemma der polnischen Konservativen Galiziens
224 Jakub Forst-Battaglia Friedensbedingungen zu verlautbaren, weckte in Österreich-Ungarn Besorgnisse und Spekulationen34). Die galizischen Konservativen waren zunächst unschlüssig. Hätte die Donaumonarchie nicht doch von Anfang an Rußland die Stirn bieten müssen? Für den todkranken Leon Sapieha stand Bismarck hinter allem Übel: Nachdem dieser Österreich-Ungarn geschickt an einer Intervention gehindert hätte, werde er vielleicht jetzt vom Zaren fordern, daß Rußland als Gegenleistung die westlichen Teile Kongreßpolens mit seinen von Deutschen besiedelten Industriezentren an Preußen abtrete. Berlin wie Petersburg würden Österreich-Ungarn dazu bringen, daß es Bosnien und die Herzegowina militärisch besetze, ,um es zum Mitverantwortlichen des Verbrechens“ der Zerstückelung der Türkei zu machen. ,Das Ende der Tragödie“ wäre dann das Verschwinden Österreich-Ungarns35). Eine Prophezeiung, die sich nach vier Jahrzehnten erfüllen sollte. Die Befürchtungen der meisten Politiker Galiziens gingen nicht so weit wie die des alten Fürsten. Trotzdem sahen sich die Konservativen gezwungen, Andrässy vor Nachgiebigkeit gegenüber Rußland ernstlich zu warnen, und zwar sowohl mit Rücksicht auf die unzufriedene öffentliche Meinung im Lande, als auch aus der Überzeugung heraus, Petersburg könnte infolge seines Machtzuwachses die Lust zu einem Kompromiß mit den Polen verloren haben36). Am 22. Februar 1878 fragte Grocholski im Abgeordnetenhaus, was die Regierung zu unternehmen gedenke, ,damit die europäischen Großmächte auf dem Kongreß nicht nur die Lage der Christen in der Türkei, sondern auch das Los der unter russischer Herrschaft stehenden Polen berücksichtigen“37). Der Friedensvertrag von San Stefano wirkte auf Europa wie ein schwerer Schock. Trotzdem antwortete Ministerpräsident Fürst Adolf Auersperg am 10. März auf Grocholskis Interpellation ausweichend38). In den Delegationen, die am 9. März 1878 nach dreimonatiger Pause zusammentraten, forderte die gemeinsame Regierung jedoch einen Nachtragskredit von 60 Millionen Gulden für das Heer39); die Bewilligung des Kredits seitens der polni34) Befürwortete Czas noch Ende November 1877 (n. 271, 1877 November 28) die behutsame Taktik des Abwartens (,unser bisheriges passives Verhalten ist weder eine Ausgeburt von Launenhaftigkeit, noch von leichtsinniger Indolenz, es beruht auf wahrer Politik, nämlich auf einem nüchternen Abwägen unserer Kräfte“), so forderte er schon zwei Wochen danach (n. 281, 1877 Dezember 11) die ,rücksichtslose Verteidigung österreichischer Interessen“. 35) Bibliotéka Czartoryskich w Krakowie (BC): Archiwum Domowe Czartoryskich, Ewidencja (Ew) 1009: Leon Sapieha an Wladyslaw Czartoryski, 1878 Januar 1 Lemberg. 36) In Czas n. 283, 1877 Dezember 13 wurde hervorgehoben, daß der Kaiser im Ernstfall ,von allen Völkern am meisten auf die Polen zählen“ könne. 37) Stenographische Protokolle des Abgeordnetenhauses 8. Session 344. Sitzung: 11163; Tarnowski Interpelacya posla Grocholskiego i Towarzyszy z dnia 22. II. 1878 roku [Die Interpellation des Abgeordneten Grocholski und Genossen vom 22. Februar 1878] in Studya Polityczne 1 331-332. 38) Czas n. 58, 1878 März 3. 39) Gustav Kolmer Parlament und Verfassung in Österreich 2 (Wien 1903) 433-435.