Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 30. (1977)

RILL, Gerhard: Zur Geschichte der österreichischen Konsulargerichtsbarkeit in Bosnien

172 Gerhard Hill Weise auf den Koran, die Bibel oder die Thora schwören dürfen. Wenige Tage später kam die Ernüchterung, als man erfuhr, daß von der christ­lichen Zeugenschaft gegen Muslim in dem Ferman nicht die Rede war. Im Jänner 1855 erhielt Athanaskovic von der bosnischen Provinzialregie­rung die Auskunft: die Untersuchungsgerichte seien bereits organisiert, die mohammedanischen Beisitzer ernannt; da die Bestimmung über die Christen unklar sei, habe man in Konstantinopel rückfragen müssen, die Antwort werde erwartet ... Aber: Auch in den jetzt amtierenden Ge­richten sei die christliche Seite ausreichend vertreten! Der Generalkonsul berichtete dazu: Dem Medslis von Sarajevo sei zur Zeit ein einziger Christ „als eine comparsa“ beigegeben, ein Handelsmann, der die Sit­zungen gar nicht mehr besuche, sondern sich die Entscheidungen — wenn unbedingt nötig — in sein Handelsgewölbe bringen lasse und dort be­siegle 41). Generalkonsul Theodorovic erwähnte am Vorabend des gro­ßen Aufstandes in seiner Landesbeschreibung zwar die paritätischen Be­zirks- und Kreisgerichte „wo aber die Nichtmuhamedaner ihre Meinung nicht auszudrücken wagen, sondern nur die muhamedanischen Stimmen zu bestätigen pflegen“42). Ein Kompromiß über den Wert der christ­lichen Zeugenaussage kam vor 1878 in Bosnien nicht zustande. Im Gegen­teil: Je stärker die Kapitulationen von der mohammedanischen Öffent­lichkeit als verletzend und unzeitgemäß empfunden wurden, desto mehr wurde auch die Frage des Eides in ein religiös-moralisches Schema ge­zwängt und von der Gerichtspraxis abstrahiert43). Über die Kriterien, die für die Zuerkennung der österreichischen Staatsbürgerschaft maßgeblich waren, bestanden nur geringfügi­ge Meinungsunterschiede. Daß dieses Problem überhaupt so oft disku­tiert wurde, war eine Folge der dalmatinischen Einwanderungswelle in Bosnien. Wassitsch sprach 1860 von Hunderten von Einwanderern 44), aus der in der Konsularagentie Livno geführten Liste läßt sich von 1857 bis 1861 immerhin eine Zunahme um 100 Einwanderer-Familien erkennen; von den 117 österreichischen Familien, die 1861 im Agentiedistrikt von Livno siedelten, stammten 95 aus Dalmatien 45). 41) Bericht Athanaskovic, 1855 Jänner 10: Admin. Reg. F 30/14 (Türkische Untersuchungsgerichte). 42) Skizzen von Bosnien und Herzegovina 1875 p. 45 cap. XIV: Admin. Reg. F 8/56 (Bosnien-Herzegowina, Sarajevo). Beispiele bei Frh. v. Helfert Bos­nisches (Wien 1879) 188f und Amand Frh. v. Schweiger-Lerchenfeld Bosnien, das Land und seine Bewohner (Wien 1878) 166, 168 ff. 4S) Charakteristisch dafür ist ein Leitartikel des Ibret 1872 November 19, worin der Nachweis versucht wird, daß die türkisch-europäischen Gegensätze in der Frage des Eides und damit ein wesentlicher Grund für die Existenz der Kapitulationen nur auf einem Mißverständnis beruhen; deutsche Überset­zung als Beilage zum Bericht der Internuntiatur, 1872 Dezember 20: Admin. Reg. F 30/46. 44) Bericht 1860 März 23: Admin. Reg. F 8/32 (Bihaé). 45) Vgl. Unterthans-Matrikel Livno 1857: HHStA Botschaftsarchiv Konstan­tinopel admin. 47 (Sarajevo) und Beilage zu Bericht Dembicki an Generaikon-

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