Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)

GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel

408 Ernst Joseph Görlich Ringelspielfahren der Kinder in Unter-Waltersdorf, Armbanduhren, Kinobesuch usw.). Ich sage, das jetzige System habe in dem System Brüning eine Analogie und werde wie dieses zusammenbrechen. Auch Brüning habe zwar gewisse außenpolitische Erfolge gehabt, innenpolitisch aber auf dem sozialen Gebiet ver­sagt, weil er wie das ganze Zentrum vom Gladbachismus 36) irre geführt war. Ich zeige Pilz die Stelle in Kardinal Schultes Erziehungshirtenbrief vom Mai 1937 über die völlige Unzulänglichkeit und den schaudervollen Zusammenbruch der Zentrumspolitik. Ferner die Stelle aus Pflieglers Lebendiger Christ (S. 52), die auf unsere Bewegung völlig paßt. Ich verweise auf Dr. Rudolfs: „Sie haben auf der ganzen Linie recht bekommen“. Pilz: „Geistliche sollen sich nicht in wirtschaftliche Dinge hineinmischen.“ Ich erzähle von Seipels kapitalistischem Kurs und seiner verspäteten Einsicht in dessen Fehlerhaftigkeit. Man müsse ganz und gar verzweifeln, wenn man sehe, wie alles zugrunde gehe. „Als ich dir von Abt Wiesinger berichtete, wie er jede weitere Aktion ablehnt, sagtest du: ,Das sei der Fehler, daß so viele nicht mitarbeiten*. Aber wo kann man denn mitar- beiten?“ Ich schildere meine Versuche, in der Vaterländischen Front mitzu­arbeiten und deren Mißerfolg. Pilz: „Der Christ darf nie verzweifeln, muß arbeiten und immer ein Optimist sein. Zum Verzweifeln ist noch immer genug Zeit. Es ist schwer, ja unmöglich, euch 100%ig wohin zu stellen.“ Für Mitarbeit sei Anpassung notwendig. Wir seien zu starr auf unseren Ideen beharrend. „Übrigens: vielleicht ist eure Zeit näher als man glaubt.“ Ich komme nochmals auf den drohenden Zusammenbruch des Systems zurück. Worauf stützt sich die Regierung? Auf die Vaterländische Front? In der sei doch das Gros nur gezwungenermaßen. Sie müßte eine Ideengemeinschaft sein, ist es aber nicht. Das gibt Pilz zu. Ich: „Was könnte mit ihr geleistet werden! Welche Möglichkeiten! Sie werden vertan.“ Pilz redet wieder von der Gnade. Wenn diese verloren sei, sei alles menschliche Tun vergeblich. Ich: „Wenn wir nichts tun, dann gibts auch keine Gnade.“ Pilz: „Menschliches Tun ist gleich 0,000 ... Die Gnade kann alles.“ Ich: „Das hieße ja Luther zustimmen, der lehrt, der Mensch könne nur sündigen, aber die Gnade decke seine Sünden zu.“ Pilz verabschiedet sich, er habe viel gelernt, hoffe das auch von mir; ich sei ihm sehr sympathisch, seine Tür stehe mir jederzeit offen. In dieser letzten Besprechung hatte sich Pilz auch als „begeisterter Frei­händler“ bekannt — aber er getraue sich unter den jetzigen Verhältnissen nicht, für die Durchführung des Freihandels zu plädieren. (41) Bei E n d e r. 13. Oktober bei Ender. Ich erkläre den Grund meines Kommens. Ender er­klärt, er habe den Ständebau nicht begonnen, sondern ihn in der Weise über­nehmen müssen, wie Neustädter-Stürmer ihn verkehrt von oben begonnen ha­be; auf dem Gegebenen müsse er organisch weiterbauen. Er fragt mich: „Also was soll geschehen?“ Ich lege dar, was das Erste hätte sein sollen und auch jetzt sein müßte, daß man alle zu einem Beruf gehörigen Elemente zu einem provi­sorischen Stand zusammenfasse und diesen den eigenen Aufbau durchführen lasse. Ich erkläre das des Näheren. So allein können alle gesunden Kräfte ent­bunden und in Bewegung gesetzt werden, könne die Wiedereingliederung der Arbeitslosen und die Erlösung des Proletariates erfolgen, die sozial-wirtschaft­3«) Orel bezeichnet als „Gladbachismus“ die von ihm so genannte „liberal- katholische Richtung“; er verstand darunter jene katholischen Kreise, die sich mit dem herrschenden kapitalistischen Wirtschaftssystem abfanden. „Glad­bachismus“ nach dem Sitz des „Volksvereins für das katholische Deutschland“ in Mönchen-Gladbach.

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