Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)
GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel
406 Ernst Joseph Görlieh Er fragte mich, was ich von Meßner 33) hielte. Ich erwiderte, daß er liberaler Individualist sei und ein Buch geschrieben habe für seine alten Ideen, um den Kapitalismus zu verteidigen und die Ständeordnung mit ihm zu vereinbaren. Sein mir bekannter großer Einfluß sei ein verderblicher. Er ist einer der Unglücksmenschen Österreichs. Pilz widersprach: Meßner sei sehr gescheit usw. Ich kam dann auf seinen Vorschlag, mich mit Ender in Verbindung zu bringen, zurück und meinte, Ender habe die Verfassung größtenteils ausgearbeitet, von ihm komme die Einteilung in falsche ,Hauptgruppen“; ich fürchte daher, bei ihm alle psychologischen Widerstände sofort aufzureizen. Pilz: „Es wird darauf ankommen, daß du ihn überzeugst. Wenn ich dich zu Schuschnigg bringe, der ist mit dem Wust des täglichen Kleinkrams so überlastet, daß du höchstens 20 Minuten mit ihm sprechen kannst. Möchtest du mit Zernatto 34) sprechen? — Aber den wirst du nicht ernst nehmen. Er ist zwar die rechte Hand von Schuschnigg ..Am Nachmittag war ich über die Situation zutiefst niedergedrückt. Ich sehe vollauf bestätigt, was Wiesinger sagt: „Man erkennt nicht den Ernst der Lage und es fehlt an ernstem Willen.“ Die Selbstcharakteristik des Systems durch Pilz ist erschütternd. Was muß da herauskommen? Das Chaos! (Von dem, was ich erst beim Aufbrechen gesprochen niederschrieb, war manches schon vorher gesagt worden, es fiel mir aber erst jetzt ein). 4. Oktober, 10—11 Uhr. Pilz teilt mir mit, er habe mit Ender gesprochen, dieser sei also unterrichtet. Leider hat er ihn gerade über meinen Gegensatz zu verfassungsmäßigen ,Hauptgruppen“ schon in Kenntnis gesetzt. Pilz habe darauf mit Schuschnigg gesprochen, dieser habe von seinem großen Zeitmangel geredet. Ich solle mich halt anmelden (d. h. Mißerfolg. Werde das nächstemal darauf zurückkommen). Ich sage, ich wolle auch mit Zernatto reden. Pilz meint, er werde von Schuschnigg so vielfach umhergeschickt, daß er noch schwerer als Schuschnigg zu erreichen sei. Wir sprachen dann über Finanzreform. Pilz gibt zu, daß die Goldwährung gefallen sei, in England, USA, Schweden, (dem) Deutschen Reich, auch bei uns. Interessiert sich für Schwundgeld. Ich rede von Kirchners Rechenwirtschaft und Entschuldungsplänen, gehe dann zur Boden- und Siedlungsreform über, die Pilz für außerordentlich gefährlich erklärt. Er muß zugeben, daß im Burgenland allein Esterhazy mehr als 35% des Bodens hat und hört meine Darlegungen über Kärnten ohne Einwand an. Die Inangriffnahme einer großzügigen Bodenreform, Zerschlagung der Großgüter werde aber die Kleinhäusler zu ungemessenen Wünschen aufstacheln und zum Bolschewismus führen. Ich: „Gerade die Nichtdurchführung der Bodenreform führt zum Bolschewismus. Verbinden wir dagegen die Menschen wieder mit dem Boden, so verwurzeln sie damit und werden konservativ.“ Ich erkläre ihm die Lehensordnungspläne, wie sich diese gegen das absolute Eigentum richten. Wir kommen auf die Juden zu sprechen, die als Konfektionäre und Händler die Christen bedrängen. Pilz meint, wie das Beispiel Deutschland zeige, hätte der Kampf gegen die Juden die furchtbare Rohstoff not zur Folge. Deutschland sei wirtschaftlich am Ende und das jetzige System müsse dort fallen: man weiß nur nicht, was man mit Hitler anfangen solle. Die Juden aber wüßten ohnehin nicht mehr wo ein und aus, sie befänden sich in völliger Ratlosigkeit, Verzweiflung. Längere Auseinandersetzung über die Familienausgleichkassen. Pilz findet sie ungerecht, weil diejenigen, die viele Kinder in die Welt setzten, die anderen zu deren Er- 33 34 33) Johannes Meßner, Univ.-Prof., Volkswirtschaftler und Soziologe, geh. 1891, Herausgeber der Zeitschriften Das Neue Reich (1918—1932) und der Monatsschrift für Kultur und Politik (1936-—1938). 34) Guido Zernatto (1903—1943), Dichter, 1936—1938 Staatssekretär in der Regierung Schuschnigg, Generalsekretär der Vaterländischen Front.