Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)

GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel

400 Ernst Joseph Görlich (37) Katastrophe in Döbling. Gregor Zacherl hatte mit Pfarrer Waurisch ausgemacht, ich solle in der Männerversammlung am 14. März in der Diskussion das Wort ergreifen. Darauf­hin werde er mich auf fordern, in der nächsten Versammlung einen Vortrag zu halten. Ich erscheine am 14. März und gehe nach Referatschluß in der Pause zu Pfarrer Waurisch und sage ihm: „Gregor Zacherl hat mir gesagt, daß er mit Ihnen ausgemacht habe, daß ich sprechen soll. Ich spreche nur, wenn Sie es wünschen. Ich von mir aus habe nicht den Wunsch dazu. Nur wenn Sie wünschen ...“. Er sehr laut zum (Esel von einem) Obmann: „Nach der Pause wird Herr Orel zu uns sprechen“. Ich bekomme das Wort und führe im wesentlichen aus: Der Vortragende (ein Spitalseelsorger) habe davon gesprochen, daß die Verquickung von Politik und Kirche sich an der Kirche rächen werde; man glaube nicht mehr, daß die Kirche etwas kann; man beklebt die Kirche mit politischen Schildern; man beschuldige sie der Schuld daran, daß in unserem „christlichen“ Staat so viel Unchristliches sei; die Führerkrise wirke sich so aus, daß eine starke antikleri­kale Welle durch die Menschen gehe; ,das spüre der Seelsorger stark“; man frage: ,was nützen die Sakramente??“, da man keine Wirkung davon sehe; überall bildeten sich Sekten, kleine Konventikel, in denen — kirchenfern — religiöse Probleme nach eigenem Gutdünken erörtert und ,gelöst“ würden; diese Ablehnung der Kirche steigere sich bis Gottlosigkeit, zum Bolschewismus; aber die Kirche sei dennoch jung wie sich in China, in Australien, auf den Philip­pinen, in Südamerika zeige. Die einzelnen Punkte erläuterte ich dabei durch Bemerkungen und Hinweise, die immer darauf abzielten, dem Pfarrer die Gelegenheit dazu zu geben, an mich die vereinbarte Aufforderung zu einer nä­heren Darlegung in einem Vortrag zu richten. Der Vortragende habe aber unter­lassen zu sagen, woher all das komme und warum das Christentum von Europa in andere Erdteile auswandere. Der Grund sei: daß wir Katholiken nur mehr den toten Glauben ohne die Werke, ohne die Lebensgestaltung aus dem Glauben hätten. Von diesem toten Glauben, der nur aus Worten ohne die Taten bestehe, kehre sich das Volk ab. Nur wenn wir wieder zu lebendigem Glauben kämen, der die Welt und ihre Einrichtungen gestalte, der das kapitalistische Wirtschaftssystem überwinde und eine gerechte Gesellschafts- und Wirtschafts­ordnung errichte, könne Europa noch gesunden, sonst sei es dem Untergang ver­fallen. Uns hier gehe besonders die katholische Laienorganisation an. Ein be­suchter Pfarrer habe mir das Wort von der ,katholischen Pression“ aus dem Mund genommen. Sie gelte es zur Aktion umzuwandeln. Nun erhob sich der Pfarrer: Wenn die Kirche mit dem Staat gut stehe, sei das immer eine Gefahr für die Kirche. Ich meinte irrig, die Kirche könne alles Nichtchristliche bannen. Aber Schuschnigg habe den besten Willen und könne es eben nicht ändern; ebenso der Kardinal. Wer sich näher für meine Ideen interessiere, der könne ja mit mir in Verbindung treten. Aber wie solle die katholische Aktion da etwas ändern können? „Der Einzelne kann die Übelstände nicht bannen. Soll ich z. B. unseren Frauen befehlen, daß sie Kinder bekommen sollen?“ (Ich dazwischen: „Aber, Herr Pfarrer, da müßte ich ja aufs Hirn gefal­len sein, wenn ich mir den lebendigen Glauben so vorstelle!“). Er redet aber weiter unsinnige Einwände und es müsse eben der Einzelne ein gutes Beispiel geben, sonst könne nichts geschehen. Sei es im vorangegangenen Einverständnis, sei es ermuntert durch die Worte des Pfarrers fuhr nun Stager (?) auf: die Ständeordnung sei eben noch im Aufbau. Man habe doch schon Wahlen vornehmen lassen (Bauern mit vorge­

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