Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 24. (1971)
SCHMID, Georg E.: Die Coolidge-Mission in Österreich 1919. Zur Österreichpolitik der USA während der Pariser Friedenskonferenz
Die Coolidge-Mission in Österreich 1919 437 Der unmittelbare Anlaß für die Initiative zur Schaffung dieser Missionen war die Verärgerung US-amerikanischer Spitzenpolitiker über bewußte und unbewußte Fehlinformationen namentlich durch die Ententepolitiker, die damit zum Teil ganz bestimmte Absichten verfolgten. Diese bewußte propagandistische Verfärbung führte nach amerikanischer Ansicht zu einer völligen Verzerrung der tatsächlichen Situation, über die man sich daher selbst Klarheit schaffen müßte. Am 8. November 1918 kabelte Edward House an Präsident Wilson, daß die Mißinformationen durch England, Frankreich und Italien besonders im Hinblick auf die Gebiete der Donaumonarchie so zahlreich und umfassend geworden seien, daß es wünschenswert und notwendig sei, durch amerikanische Beobachter an Ort und Stelle die Perspektiven des Bildes zurechtzurücken ls). Als Beobachter für die österreichisch-ungarischen Gebiete schlug House ursprünglich Joseph C. Grew vor, der aber bereits als Sekretär der American Commission to Negotiate Peace vorgesehen war. Die zweite Wahl fiel dann auf Archibald Cary Coolidge, der bereits 1917 begonnen hatte, in der Inquiry mitzuarbeiten, und seinen fachlichen Qualifikationen nach durchaus geeignet war, diese Funktion auszuüben * 14). Coolidge, ein entfernter Nachkomme Thomas Jeffersons, hatte seit 1893 hauptsächlich an der Harvard Universität gelehrt, wo er seit 1911 unter anderem den Aufbau einer Osteuropa-Bibliothek geleitet hatte. Die Jahre 1890 bis 1892 hatte er als Legationssekretär in Petersburg und Wien verbracht. Coolidge, der außer in Harvard auch in Berlin und Freiburg im Breisgau studiert hatte, war dann 1913/14 Austauschprofessor in Berlin gewesen und hatte in Europa Freunde und Bekannte, deren Einfluß in den Jahren 1918/19, zur Zeit seiner Mission in Wien, nicht unterschätzt werden sollte 15). In der Inquiry war Coolidge Chef der Osteuropa-Abteilung gewesen, ehe ihn Robert H. Lord ersetzt hatte. Coolidge ging dann auf Grund einer Empfehlung von Sidney Mezes, dem Vorstand der Inquiry, sowie eines ls) The Intimate Papers of Colonel House, hg. v. Charles Seymour (4 Bde, New York 1926—1928) 4, 232—233. 14) Archibald Cary Coolidge Life and Letters, hg. v. Harold Jefferson Coolidge u. Robert Howard Lord (Boston, New York 1932) 194. Bezüglich Grew vgl. auch Joseph C. Grew Turbulent Era, 1904—1945, hg. v. Walter Johnson (2 Bde, New York 1952). !5) Dem Tagebuch Josef Redlichs zufolge verband etwa die beiden Männer eine Freundschaft: Schicksalsjahre Österreichs. Das politische Tagebuch Josef Redlichs, 1908—1919, hg. v. F. Fellner (2 Bde, Graz—Köln 1953—1954) 2, 329; vgl. auch 330—331, 333, 337, 338, 340, 341 und 343. Später, von 1922 bis 1927, war Coolidge Herausgeber der Zeitschrift Foreign Affairs. Er war auch Verfasser der Bücher: The United States as a World Power (1908); The Origins of the Triple Alliance (1917); Ten Years of War and Peace (1927, eine Sammlung Essays, darunter The Break-up of the Habsburg Empire). Zur Person Coolidges vgl. auch Dictionary of American Biography 4 (New York 1930) 393 sowie Encyclopedia Americana 7 (New York—Chicago 1947) 632 f.