Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 9. (1956)
WALTER, Friedrich: Metternich und Gervay. Ein Briefwechsel
188 Friedrich Walter Intriguenspiel um die Nachfolge nach Chotek in Böhmen die überlieferten Bahnen der österreichischen Innenpolitik nicht oder vielleicht richtiger noch nicht ernsthaft beirren konnten, so lagen diese Vorgänge doch zuvörderst im Wirkungsbereich Kolowrats, obzwar der Staatskanzler besonders seit Kaiser Franzens Tod auch in internis ein sehr gewichtiges Wort sprach. Schon die rein gegenständliche Bereicherung unseres Wissens um die geschichtlichen Ereignisse dieser Jahre, die wir aus dieser Korrespondenz ziehen können, ist nicht ganz unbedeutend: die Regierungspolitik gegenüber Ungarn und der noch in ihren Anfängen stehenden tschechisch-nationalen Bewegung erfährt manche Aufhellung, und im besonderen wird sich die grundsätzliche Stellungnahme Metternichs selbst aus diesen Briefen, die ungehemmt durch persönliche oder amtliche Rücksichten geschrieben wurden, in manchen Punkten klären lassen. Darüber hinaus aber tritt uns hier merkwürdig eindrucksvoll die ganze Persönlichkeit des Staatskanzlers entgegen, ersteht hier ein recht lebendiges Bild des Fürsten, des Staatsmannes und des Menschen — nicht allerdings ein farbenprächtiges repräsentatives Galerieporträt, aber doch eine sehr reizvolle Miniatur, in der weder Haß noch Liebe eine Linie verfälscht haben, mit einer Fülle von Einzelzügen, deren jeden gänzlich unbewußt der Briefschreiber selbst darbietet. Es eröffnet sich uns aber auch ein unbehinderter Blick in die Werkstatt des Kanzlers. Der dem jungen Metternich gerne nachgesagte und ihm zweifellos auch wirklich eigene Schuß leichtfertiger Frivolität ist nicht mehr zu entdecken, der Fürst ist ein fleißiger Arbeiter geworden. Zug um Zug antwortet er auf Gervay’s Berichte, pünktlich erledigt er die ihm zugeschickten Akten und Protokolle, schreibt die Entwürfe seiner oft langatmigen Denkschriften stets mit eigener Hand, ja er steckt bisweilen in einer so „ungeheuren Schreiberey“ 4), daß er „kaum Kopf genug zum Denken und Federn zum Schreiben“ hat5). Der Fürst konzipiert leicht und flüssig und oft gelingen ihm recht plastische Bilder, so wenn er gelegentlich von seiner durch die große Hitze bedingten übergroßen Reizbarkeit sagt, „seine Nerven seien wie eine zu hoch gestimmte Harfe gespannt“ 6), oder wenn er die Ungarnpolitik der Regierung kritisiert und meint, man stünde in den ungarischen Verhältnissen „wie ein Mensch, dessen Geist wach, dessen Gliedmaßen aber mit einer Lähmung behaftet seien“ 7). Es fehlt Metternich auch keineswegs an Witz: „Es gehört zu den leidigen Symptomen unserer heutigen Stellung, daß sehr selten ein Tag vergeht, ohne irgend eine Mißgeburt 4) LVIII. 5) LXIX. «) IX. 7) XLII.