Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 8. (1955)

MISKOLCZY, Gyula: † Gyula (Julius) Szekfü (1883–1955)

Gyula (Julius) Szekfü (1883—1955) 539 Werte, einen höchst individuellen Charakter. Der Verfasser wollte nicht die politische oder die Geistesgeschichte einer Nation schildern, sondern deren Leben im Laufe der Jahrhunderte in seiner organischen Ent­wicklung darstellen. Die Problemstellung ist klar durchdacht, der Vor­trag eingebettet in die Geschichte des europäischen Geistes. Sz. zeigt Interessen für jede Persönlichkeit und jede Erscheinung, die auf das Leben des Volkes zurückwirkten, für die Renaissance-Figur des Corvinus wie für den Verfall des Ackerbodens in derZeit der türkischen Eroberung und für die Änderung der materiellen und ethischen Situation. Mit großer Liebe widmet er seine Aufmerksamkeit der Schilderung der sozialen Lage, aber auch der Reformation und der katholischen Restauration, ausführlich bespricht er die materiellen Verhältnisse, die Reformen des aufgeklärten Absolutismus, die Wirkung der nationalen Idee usw. Die Probleme sind meisterhaft analysiert und kunstvoll dargelegt; die Feder des Verfassers wird nicht nur vom Interesse des Gelehrten geführt, son­dern auch von der demütigen Liebe zur eigenen nationalen Gemeinschaft. Während der Arbeit wurde sein Interesse an einigen Persönlichkeiten geweckt; so kam die mit tiefem psychologischem Einfühlen geschriebene Studie über G. Martinuzzi zusstande, so entstand das bedeutende Werk über den siebenbürgischen Fürsten Gabriel Bethlen, dessen Gestalt und Regierungskunst von Sz. in mancher Hinsicht in ein neues Licht gerückt wurde (1929). Verzeichnen wir noch die tiefschürfenden Artikel über den Vormärz, geboren aus dem Grübeln darüber, wo das ungarische Volk den Weg der organischen Entwicklung verfehlt hat, und erwähnen wir das Verdienst Sz.s, das er mit der Einführung der geistesgeschichtlichen Methode in die ungarische Geschichtschreibung erworben hat; einige geistesgeschichtliche Abhandlungen sind auch gesammelt erschienen. Damit sind die wichtigsten Früchte aus der reichen Ernte Sz.s her­vorgehoben. Zu seinem geistigen Bild gehört die Feststellung, daß er ein tapferer Verfechter der katholischen Geistigkeit war und daß seine Schüler, von ihm geleitet, den Boden der vernachlässigten katholischen Kirchengeschichtschreibung mit Erfolg bearbeiteten. Sein Platz ist ohne Zweifel unter den größten Geschichtschreibern unserer Zeit. Seine wissen­schaftliche Persönlichkeit kann nicht nach den Kategorien der Alltäg­lichkeit beurteilt werden. Er war wohl ein ausgezeichneter Vertreter der Geistesgeschichtschreibung — das großartige, von ihm entworfene Bild über das ungarische Barock wird noch lange Zeit das Schönste bleiben, was die ungarische Wissenschaft auf diesem Gebiet bieten kann —, blieb aber auch ein Meister der politischen Geschichtschreibung. Die Akribie seiner Aktenpublikationen verrät den Archivar, den Schüler des Geistes, der im Wiener Staatsarchiv geherrscht hat. In die erste Reihe stellt ihn sein untrüglicher historischer Sinn, die Breite und Tiefe seiner Bildung, sein seltenes Einfühlungsvermögen. Sein Stil ist rein, klar und prägnant, er wirkt auf den Verstand, ohne der Gefühlsmomente zu entbehren. Es war ein großes wissenschaftliches Verdienst von seiner Seite, daß er brach mit der früheren Richtung der ungarischen Geschichtschreibung, mit deren protestantisch-liberaler Betrachtungsweise, die, mit nationalen Ressentiments gepaart, leicht zu einseitigen, oft falschen Resultaten

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