Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 8. (1955)
MISKOLCZY, Gyula: † Gyula (Julius) Szekfü (1883–1955)
538 Nachrufe Bis zu unseren Tagen wird dieses Werk von der deutschen Geschichtschreibung als die verläßlichste Quelle von Kenntnissen über die Geschichte Ungarns benützt. Mit Recht, weil es unübertrefflich ist in der nüchternen Darlegung und weitsichtigen Beurteilung der Probleme in der ungarischen Geschichte. Erst der Zusammenbruch von 1918 hob Sz. weit über den einfachen Geschichtschreiber empor und wies ihm einen wichtigen Platz im öffentlichen Leben seines Volkes zu. Seine Arbeit wurde zu nationaler Arbeit, als er nun zur historisch-politischen Geschichtschreibung überging und mit seinem 1920 erschienenen Werk „Drei Menschenalter“ zu einem der führenden Geister seines Volkes wurde. Die Größe der Konzeption und der Mut zur bitteren, oft schonungslosen Kritik zeichnen dieses, bis dahin in der ungarischen Wissenschaft beispiellose Werk aus. Auf der Suche nach den Gründen der nationalen Katastrophe wies Sz. auf die Verflüchtigung des gesunden politischen Sinnes und auf den Verlust der nötigen Selbsterkenntnis der Ungarn in der Zeit des Dualismus —• nach ihm die Epoche des Verfalls —, mit der geistigen Fäulnis hinter den glanzvollen Äußerlichkeiten. Mit magistraler Klarheit zeigt Sz. die Krankheitssymptome hinter der Fassade auf, die Krankheit des Volkes und des Staates, die übermäßige Lobhudelei vor allem Ungarischen, die Selbstzufriedenheit, den Mangel an Organisation der Gesellschaft, verdeckt durch den übermäßigen Etatismus, die Sünden eines ungehemmten Liberalismus, begleitet vom Elend der breiten Massen. In den späteren, in den dreißiger Jahren erschienenen Ausgaben ergänzte Sz. seine Kritik bis zu jener, von der Wirtschaftskrise geschüttelten Zeit, und nach Untersuchung der sozialen Frage von der Höhe der christlichen Ethik zeichnete er ein erschütterndes Bild der unhaltbaren Zustände. Der vor wenigen Jahren von den Banausen verfolgte Sz. ward nunmehr ein sehr oft zitierter Autor, aus dessen Werk die zünftige Politik Jahre hindurch ihre Weisheit schöpfte. Die historisch-politische Betrachtungsweise blieb fortan vorherrschend in Sz.s Arbeit. Als Redakteur einer auf hohem Niveau stehenden Zeitschrift (Magyar Szemle — Ungarische Rundschau) widmete er sich der Lösung lebenswichtiger Probleme seines Volkes. Einige wenige seiner historisch-politischen Studien veröffentlichte er in einem kleinen Band. Auch jetzt blieb er der Gelehrte, ging nicht zur Politik über. 1926 gab er einen Band von Dokumenten über die Geschichte der ungarischen Staatssprache mit einer lehrreichen Einleitung heraus. Auch er betrachtete die Nationalitätenfrage als die cruziale Frage seiner Nation; nach einigen einleitenden Studien über Volkstum, Nation und Staat (Ungarische Jahrbücher), Ungarn und seine Minderheiten im Mittelalter (Südostdeutsche Forschungen) trug er seine Meinung über dieses schwierige Problem in der großen Synthese der ungarischen Geschichte mit überzeugender Kraft vor. Seine leitenden Gedanken legte er in dem schönen Buch Etat et nation dar. Das Hauptwerk Sz.s bildet die (mit V. Hóman zusammen herausgegebene) große Synthese der ungarischen Geschichte. Ihm ist der Vortrag der Zeitspanne von Mathias Corvinus bis 1914 zu verdanken. Dieses Werk trägt irgendwie, durch Umwertung vieler traditionell festgesetzter