Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 8. (1955)

MISKOLCZY, Gyula: † Gyula (Julius) Szekfü (1883–1955)

Gyula (Julius) Szekfü (1883—1955) 537 waren das Geschenk des Wiener Kulturbodens an den jungen, begabten Forscher. Diese Weitsicht sollte ihn später befähigen, das Schicksal seines Vaterlandes immer im Rahmen der Habsburger-Monarchie und der europäischen Kulturgemeinschaft zu betrachten. Es gelang Sz., über jedes Problem, das er mit seiner seltenen Arbeits­kraft untersuchte, Wesentliches zu sagen, und so die Wissenschaft seines Landes einen großen Schritt vorwärtszubringen. In den ersten For­schungsjahren wurde seine Aufmerksamkeit von wirtschafts- und sozial­geschichtlichen Fragen gefesselt. Längere Zeit beschäftigte er sich mit der Zeit Ferdinands I., ohne jedoch das Ergebnis dieser Forschungen gesondert mitzuteilen. Er veröffentlichte Urkunden zur Münzreform des Königs Karl Robert von Anjou (erste Hälfte des 14. Jahrhunderts), dann schrieb er eine Abhandlung über die servientes und familiares, ein richtunggebendes Werk für die moderne sozialgeschichtliche Forschung in der ungarischen Wissenschaft; obwohl 1912 erschienen, blieben die Ergebnisse des Werkes bis heute eine verläßliche Grundlage ähnlicher Forschungen. Zu dieser Zeit bekam Sz. den Auftrag, das Schicksal des Fürsten Franz Rákóczi II., des großen ungarischen Widersachers der Habsburger in der Zeit des spanischen Erbfolgekrieges, in der freiwilligen Emigra­tion auf Grund neuer Dokumente zu schildern. 1913 erschien das Werk, von dem ein feingebildeter ungarischer Gelehrter später sagte, es sei eines der schönsten ungarischen Bücher, die jemals geschrieben wur­den — und geriet in den Mittelpunkt eines gewaltigen Skandals. Nicht daß Sz. die Gestalt des vergötterten Nationalhelden, den seine mensch­liche Größe tatsächlich würdig machte, von einem Volke verehrt zu werden, heruntergesetzt hätte; seine Sünde bestand darin, daß er den Mut hatte, auf gewisse Schwächen des Fürsten, hauptsächlich in der Emigration, hinzuweisen, so auf seine naive Beurteilung der europäischen Lage. (Eine ähnliche Frage wurde vor kurzem auch von Braubach be­rührt.) Es wurde Sz. weiters als schwerwiegende Versündigung gegen das Prestige der ungarischen Nation angerechnet, daß er von gewissen moralischen Fehlern der Emigration, Fehler, die jede Emigration zu allen Zeiten gemacht hat und machen wird, Erwähnung machte. Umsonst stellten sich die Fachgelehrten auf die Seite des unglücklichen Verfas­sers, der über Rákóczi im Tone der aufrichtigen Ehrfurcht geschrieben hatte, und von der seelischen Krise des Fürsten ein tiefgründiges psycho­logisches Bild entwarf, mit einer Kunst des Vortrages, die diese Seiten tatsächlich unvergleichlich machen in der ungarischen Literatur. Diese Jahre der Vereinsamung waren die düstersten in Sz.’s Leben. Er litt schwer unter den Angriffen. In den ersten Jahren des Weltkrieges be­schäftigte er sich mit solchen Themen, die nur den zunftmäßigen Historiker interessierten: er veröffentlichte den Nachlaß eines in Konstantinopel unter tragischen Umständen verstorbenen ungarischen Turkologen (Imre Kará­cson), ein türkisch-ungarisches Diplomatari um (1914), Türkische Geschichts­schreiber (1917); weiters nahm er an der Veröffentlichung der ungarischen Korrespondenz des Paschas von Ofen teil (1915). So kam es überraschend, als 1917 sein Werk „Der Staat Ungarn“ in deutscher Sprache erschien.

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