Mittheilungen des k.k. Kriegs-Archivs (1882)
Josef Rechberger Ritter von Rechkron, Oberstlieutenant im k. k. Kriegs-Archive: Wien's militärische Bedeutung (Eine historische Studie)
III. Schlussbetrachtungen. 315 das Festungsviereck nicht zu Gebote stand, unausführbar gewesen, ohne dass der Gegner es unterlassen hätte, sich an deren Ferse zu hängen, um mit ihr vor der Kaiserresidenz einzutreffen. Diese aber wäre dann von Nord und Süd gleichzeitig unmittelbar bedroht worden. Bis zum Jahre 1866 war es Frankreich, welches im Bündnisse mit Italien gleichzeitig von Westen und von Süden gegen das Centrum der Monarchie Vordringen konnte. Heute umfasst Deutschland unsere Monarchie im Westen und Nord wes ten, vom Bodensee bis Mislo- witz in Preussisch-Schlesien. Ein Blick auf die Karte zeigt, dass der deutsche Nachbar in einem Kriege gegen Österreich nur Wien als strategisches Operations-Object in’s Auge fassen kann; um so mehr als er von Westen durch das gänzlich ungeschützte Donauthal und von Norden aus Schlesien über Glatz den kürzesten Weg zum Centrum des Reiches findet. Wenn (abgesehen von den Türkenkriegen, während welchen Wien zweimal gefährdet war) bezüglich des Nordosten, Osten und Südosten die Geschichte auf keine Thatsachen hinzuweisen vermag, so lassen sich doch die möglichen und auch wahrscheinlichen Eventualitäten nicht hinwegleugnen. Gegenüber Russland ist die geographische und politische Position so scharf markirt, dass sich diesbezüglich kaum Jemand einer Täuschung hingeben dürfte. Der grosse Nachbar im Osten kann von seiner Basis, die von Polen bis zum Pontus reicht, auf mehreren Haupt Operatiouslinien gleichzeitig gewaltige Heersäulen gegen das Centrum der Monarchie in Bewegung setzen. Ignorirt und unterschätzt man die jüngsten Veränderungen in der politischen Gestaltung der Balkan-Halbinsel nicht, so erscheint Russlands Machtsphäre wesentlich erweitert. Die Ursachen, welche zur Gründung neuer selbständiger Reiche führten, legen die Möglichkeit einer nicht minder ausgedehnten südslavischen Operationsbasis für Russland in einem Kriege gegen Österreich nahe. Dadurch erscheint letzteres von Krakau bis Belgrad durch den östlichen Gegner strategisch umklammert. Nicht ausgeschlossen ist bei der ausgedehnten Angriffsfront der Fall, dass Missgeschicke der kaiserlichen Streitkräfte, oder ein fehlerhafter Schachzug gegen eine der feindlichen Heersäulen dem Gegner Gelegenheit bieten, sei es auf dem linken, sei es auf dem rechten Donauufer sich Wien zu nähern. In solchem Falle wird der kaiserliche Feldherr bei seinen Massnahmen der lähmenden Fessel, welche die stete Sorge um die wehrlose Reichshauptstadt bilden muss, nur dann entledigt sein, wenn diese auf beiden Stromufern als Waffenplatz und Manövrirpivot für mindestens drei bis vier Wochen haltbar befestigt ist. Das grösste Feldherrntalent unseres Jahrhunderts scheiMittheilungen des k. k. Kriegs-Archivs. 1882. 22