Schürer, Fritz von Waldheim dr.: Ignaz Philipp Semmelweis (Wien-Leipzig, 1905)
1846-1850. Assistent in Wien. Entdeckung der Ursachen des Kindbettfeiebers. Erfolge und Verfolgungen. Dozent. Abreisen von Wien
18 Die ganze Nacht verfolgte ihn das Bild von Kolletschka’s Krankheit, tausenderlei Gedanken stürmten auf ihn ein, und je mehr er in den folgenden Tagen nachgrübelte, mit um so größerer Entschiedenheit und Klarheit drängte sich seinem Geiste die Identität der Leicheninfektion mit dem Kindbettfieber der Wöchnerinnen und Neugeborenen auf. Genau denselben allgemeinen Leichenbefund fand er hier wie dort. Bei allen die gleiche Entzündung des Bauchfelles, Brustfelles, Herzbeutels, der Hirnhaut; bei allen Metastasen. Entzündung der Venen und Lymphgefäße bei den Wöchnerinnen im Bereiche des Genitalsystems, bei Kolletschka an der verletzten Extremität. Bei diesem war die veranlassende Ursache und der Hergang der Krankheit bekannt: Er erlitt eine Verletzung am Finger. Aber wie oft verletzt man sich, ohne daß weitere Folgen eintreten! Warum kam es bei Kolletschka zu so bösartiger Lymphangoitis und Phlebitis, zur Vergiftung des ganzen Blutes? Das erschwerende Moment lag offenbar darin, daß ihm mit einem Sektionsmesser der Stich beigebracht wurde. Schon viele Forscher vor ihm waren an den Folgen solcher Sektionsverletzungen zugrunde gegangen. Sektionsinstrumente sind mit übelriechenden Kadaverteilen verunreinigt. Diese gelangen bei der Verletzung in die Wunde und erzeugen die Entzündung der Venen und Lymphgefäße, durch diese die Blutvergiftung. Bei den Wöchnerinnen findet sich gleichfalls Phlebitis, Lymphangoitis, aber im Genitalsystem — ha! Ein neuer Gedanke ließ Semmelweis’ Herz schneller schlagen: Bei der Wöchnerin wird der Genitaltrakt mit Leichengift infiziert!! Wodurch? Durch den untersuchenden Finger, der vorher Kadaverteile berührt hatte. Aber man wäscht sich doch vor der Untersuchung mit Seife und Wasser! Gut, aber riecht nicht die Hand trotzdem noch stundenlang nach Kadaver? Indes, soll diese kleinste Spur von Kadaverteilchen, die dem Auge nicht mehr sichtbar und nur unserem Geruchssinn erkennbar ist, in der Tat bei flüchtiger Berührung — der untersuchende Finger ist überdies gefettet — die Scheide, das Innere des Uterus so verunreinigen, daß eine tödliche Krankheit daraus entsteht? Jawohl, das Kadavergift muß schon in kleinsten Mengen wirksam sein, denn gerade kleine Verletzungen, wenn sie nur tief gehen, Stiche, sind am gefürchtetsten. Die Kreißende wird aber doch nicht verletzt bei der Untersuchung! Bei letzterer in der Regel wohl nicht, obwohl der Nagel leicht Schleimhautrisse machen kann, aber bei Operationen. Das sind meist Quetschungen, flache Abschürfungen, keine Stiche. Dafür ist es eine Schleimhaut; diese resorbiert viel rascher als die äußere Haut. Aber Operationen sind doch nur höchst selten notwendig! Richtig, aber blutet es nicht auch bei einer normalen Geburt? Da entstehen Verletzungen von selbst, durch das Hindurchpressen der Frucht. Und die Blutung nach dem Abgang der Nachgeburt? Woher kommt sie? Von der Placentarstelle, die eine wunde Fläche darstellt! Die Wöchnerin ist eine Verwundete! Der Finger trägt das Kadavergift in das Genitale und die wunde Placentarstelle wird nachträglich dadurch infiziert. Kindbettfieber ist kadaveröse Blutvergiftung.