Lothar Groß: Inventare Teil 5. Band 1. Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559-1806 (1933)

I. Die allgemeine Entwicklung der Reichskanzlei von 1559-1806 - 3. Die Reichskanzlei im Kampfe mit der österreichischen Hofkanzlei bis zum Rücktritt des Reichs Vizekanzlers Schönborn

maßgebend. Sie wurde gewiß auch dadurch gefördert, daß der damalige Hofkanzler Bucceleni keine starke Persönlichkeit und Windischgrätz nicht gewachsen war 207). Gerade bei Windischgrätz und seinem Nachfolger Kaunitz zeigt sich deutlich, wie sehr die Bedeutung des Vizekanzleramtes damals noch von den Persönlichkeiten seiner Träger abhängig war, die das Glück hatten, in der Stellung des Hofkanzlers nicht einen so gefährlichen Rivalen zu finden, wie es ein Hodher gewesen war 208). Man würde in­dessen vollends fehlgehen, wenn man annehmen wollte, daß der neuerliche Aufschwung der Reichskanzlei auch eine Stärkung der erzkanzlerischen Stellung bedeutete. Gerade weil der Kaiser den Reichsvizekanzler wieder als einen seiner ersten Minister betrachtete und ihm jetzt wieder die wich­tigsten Staatsgeschäfte anvertraut waren, war er mit aller Energie darauf bedacht, daß nur ein ihm genehmer und ergebener Mann dieses Amt inne­habe. Dies zeigte sich sogleich nach dem Tode des Grafen Windischgrätz. Während der Erzkanzler Anselm Franz von Ingelheim, dem zuerst der Pfalzgraf Ludwig Anton von Neuburg und dann der Bamberger Bischof Lothar Franz von Schönborn als Koadjutor an die Seite gesetzt wurde, nicht der Mann gewesen wäre, dem Kaiser bei der Besetzung des Vize­kanzlerpostens Schwierigkeiten zu machen, war Lothar Franz von Schön­born, der nach dem am 30. März 1695 erfolgten Tode Anselms Erzbischof von Mainz geworden war, entschlossen, seine erzkanzlerischen Rechte mit allem Nachdruck zu verfechten und einen Mann seines Vertrauens zum Leiter der Reichskanzlei zu machen 209). Es war ein merkwürdiges Spiel des Zufalls, daß sein Kandidat Graf Philipp Wilhelm Boineburg ein Sohn jenes Boineburg war, dem 1659 Erzbischof Johann Philipp vergeblich das Reichsvizekanzleramt zuzuwenden versucht hatte 21°). Auch jetzt führte die Präsentation des jungen Boineburg, die der Kurfürst, von seinem Wiener Residenten Gudenus gedrängt, in überstürzter Weise bereits am 31. De­zember 1695 211) an den Kaiser ergehen ließ, bevor er noch das kaiserliche Schreiben vom 27. Dezember mit der offiziellen Nachricht vom Tode des Grafen Windischgrätz erhalten hatte, zu einem schweren, Monate währenden Konflikt zwischen Leopold I. und dem Erzkanzler. Da dieser Streit kürzlich eine eingehende Darstellung durch Christian Brod- b e c k in dessen Biographie P. W. Boineburgs erfahren hat212), können wir hier auf diese verweisen und uns mit der Heraushebung dessen be­gnügen, was für das Verhältnis des Kaisers zum Erzkanzler und die Wertung des Vizekanzlerpostens von allgemeiner Bedeutung ist. Leopold m) Vgl. die Denkschrift des Hofkanzlers Sinzendorf v. to. März 1704 bei Fellner-Kretschmayr I/3, Aktenstücke 40, Nr. 39 A. 208) Darauf habe ich bereits Hist. Vierteljahrschrift, N. F., 22 (1924), 310, hin­gewiesen und H a n t s c h hat dies a. a. O. 74 neuerdings besonders betont. 209) Vgl. über Lothar Franz K. Wild, Lothar Franz v. Schönborn, Bisch, v. Bam­berg u. Erzbisch, v. Mainz. 21°) Vgl. oben S. 49 f. 211) Das Konzept des Präsentationsschreibens trägt das verbesserte Datum des 31. Dez., während das Begleitschreiben an Gudenus (Konzept) schon vom 28. Dez. datiert ist, Mzer. R. K. 3. 212) Philipp Wilhelm Reichsgraf zu Boineburg, kurmainz. Statthalter zu Erfurt (Mitt. d. Ver. f. d. Gesdi. u. Altertumskde. v. Brfurt 44, 31 ff.). — Die Akten über den Konflikt i. Mzer. R. K. 3. 59

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