Lothar Groß: Inventare Teil 5. Band 1. Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559-1806 (1933)

I. Die allgemeine Entwicklung der Reichskanzlei von 1559-1806 - 2. Die Reichskanzlei unter Rudolf II. und Mathias

der Reichskanzlei das starke Ausgreifen ihrer österreichischen Abteilung, die in Khlesl einen mächtigen Förderer hatte. Theoretisch war 1612 eigentlich jener Zustand in der Kanzlei wieder hergestellt, der zur Zeit der Verlegung der kaiserlichen Residenz nach Prag bestanden hatte. In Wirklichkeit hatten sich aber die Verhältnisse wesentlich geändert. Die österreichische Abteilung bildete jetzt einen viel stärkeren und viel ge­schlosseneren Körper als 1578. Sie war mit Beamten besetzt, die in ihrer Mehrzahl seit Jahren einer mehr oder weniger selbständigen Kanzlei an­gehört hatten, sie hatte aber auch den Kreis ihrer Agenden gegenüber der ersten Regierungszeit Rudolfs stark erweitert. Aus dem Jahre 1614 ist uns ein Protokoll erhalten 116), das alle bei der österreichischen Expedition in diesem lahre eingegangenen Schriftstücke und deren Erledigung, auch die aus eigener Initiative der Kanzlei ergangenen Dekrete und Erlässe verzeich­net. Es gibt eine gute Vorstellung von dem Umfang der Geschäfte und ihrer Behandlung und zeigt aber auch deutlich, daß diese österreichische Kanzleiabteilung damals geradezu eine zentrale Stellung am Hofe des Kaisers einnahm, bei der die verschiedensten Angelegen­heiten vorgebracht wurden, die dann teilweise von ihr an andere Stellen, wie die Hofkammer, den Reichshofrat, den Hofkriegsrat und die ungarische Kanzlei zur Erledigung weitergeleitet wurden. Deutlich ist aus diesem Pro­tokoll zu entnehmen, daß die österreichische Expedition die Kanzlei jener österreichischen Sektion des geheimen Rates war, die Khlesl in seinem Schreiben an Kaiser Mathias vom 12. Oktober 1614 ausdrücklich nennt117). „Ich habe heunt reichs- und oesterreichischen rath gehalten“, sagt er in diesem Brief und unterscheidet also klar zwei verschiedene Räte. Dem ent­spricht es auch vollkommen, daß das im Wiener Staatsarchiv erhaltene Ge­heime Ratsprotokoll von 1614 118) nur Reichssachen enthält, also nur ein Protokoll des „Reichsrats“ war, während unser österreichisches Protokoll zwar kein Protokoll über die Sitzungen dieses „österreichischen Rates“ war, aber doch alles enthält, was von ihm kam und auf Grund seiner Beschlüsse erledigt wurde 119). Sehr lehrreich ist ein Vergleich dieser beiden Protokolle, er zeigt sehr klar, wie der Geschäftsumfang der österreichischen Sektion den der reichischen weit übertraf. Hier kommen Einfluß und Per­sönlichkeit Khlesls deutlich zum Ausdruck. Eine nähere Durch­sicht des Protokolls zeigt uns übrigens auch, daß die österreichische Sektion Angelegenheiten an sich zog, die nicht in ihre Kompetenz fielen, sogar Harrach kaiserliche Diplome unterfertigten, so trifft dies für die Zeit vor 1620 nicht zu. Die Genannten unterfertigten vielmehr erst nach Gründung der österreichischen Hof­kanzlei in deren ersten Jahren die aus ihr ausgehenden Hoffreiheiten und Hofdienstbriefe, wie dies Kretschmayr bereits i. Zentralverwaltung, I/i, 152, Anm. 1, richtiggestellt hat. Aus der Reichskanzlei sind, soviel ich sehen kann, unter Ulms Vizekanzlerschaft nur von ihm oder seinem Stellvertreter Stralendorff Unterzeichnete Diplome hinausgegangen. Vgl. aber auch unten S. 39. 1U1) Cod. 14391 der Wiener Nationalbibliothek. 117) Hammer-Purgstall, Khlesl 3, 123, Nr. 444. 118) R. H. R. Prot. rer. resol. saec. XVII, Nr. 26. 119) Wenn also auf dem ersten Blatte dieses Protokolls der Vermerk eines Beamten der vereinigten Hofkanzlei aus dem 18. oder 19. Jht. es als „achtes geheimes Raths-Pro- tocoll vom 2. I. bis 31. XII. 1614 der geheimen österreichischen Hofkanzley“ bezeichnet, so ist dies — abgesehen von der irrigen Bezeichnung österreichische Hofkanzlei — nicht unzutreffend. 37

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