Lothar Groß: Inventare Teil 5. Band 1. Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559-1806 (1933)
I. Die allgemeine Entwicklung der Reichskanzlei von 1559-1806 - 2. Die Reichskanzlei unter Rudolf II. und Mathias
kapitulation zu binden und so womöglich die Leitung der Kanzlei wirklich in die Hand zu bekommen. Zu Anfang April 1612, als der Erzkanzler sich mit diesen Gedanken befaßte, war der Ausgang der Königswahl noch recht unbestimmt und so mochte die Lage solchen Plänen nicht ungünstig erscheinen. Der Kanzler Johann Schweikhards stand jedoch diesen sehr ablehnend gegenüber, er fürchtete die Rivalität der weltlichen Kurfürsten und war entschieden dagegen, die ganze Frage in die Kapitulationsverhandlungen einzubeziehen. Seinem Einfluß wird es wohl auch zuzuschreiben sein, daß der Mainzer Kurfürst von seinen Ideen weitgehend abkam. In die Wahlkapitulation fanden zwar eingehende Bestimmungen über eine neue Reichshofratsordnung und die Revision des Reichshofrats unter Zuziehung des Erzkanzlers Aufnahme, hinsichtlich der Reichskanzlei aber wurde nichts bestimmt. Hatte der Kurfürst auch auf eine präzis formulierte Festlegung seiner Rechte in der Kapitulation verzichtet, so gelang es ihm jetzt doch leicht, mit einem Mann seines Vertrauens den Posten des Vizekanzlers zu besetzen. Er einigte sich zu Frankfurt mit Mathias auf Hans Ludwig von U 1 m, den er schon bei Lebzeiten Rudolfs als Nachfolger Stralendorffs in Aussicht genommen hatte und der ihm durchaus ergeben war 108). Nach der am 13. Juni 1612 erfolgten Wahl kehrte Mathias alsbald nach Prag zurück und schon am 29. Juni erteilte der Erzkanzler Stralendorff, der in Prag zurückgeblieben war, den Auftrag zur Wiedereröffnung der Reichskanzlei und des Archivs sowie die Vollmacht, Akten auf ausdrückliches Verlangen des Kaisers und gemäß der Kanzleiordnung auszufolgen. Er schärfte ihm aber auch ein, gegen jede allfällige Verletzung der erzkanzlerischen Rechte zu protestieren und darüber zu berichten 109). Stralendorffs Enthebung war damals zwar bereits beschlossene Sache, der Erzkanzler ließ ihn darüber aber wohl absichtlich noch im unklaren, um vorläufig seiner Dienste in Prag noch sicher zu sein, da sich Ulms Dienstantritt zunächst noch sehr hinauszog. Er mochte auch Khlesl, unter dessen Einfluß Mathias vollkommen stand und der übrigens mit dem Aufträge des Erzkanzlers an Stralendorff keineswegs einverstanden gewesen zu sein scheint, nicht ganz trauen. Stralendorff hat dann zwar noch einige Male an Johann Schweik- hard Berichte erstattet, sonst aber keine Funktionen mehr ausgeübt. Die vor Ulms Amtsantritt aus der Reichskanzlei ausgehenden Schriftstücke' wurden lediglich von dem Sekretär Pucher unterzeichnet, der bereits seit 25. Juni im Reichshofrate amtierte 110). Nach mehrfachen Aufforderungen zum Dienstantritt traf Ulm endlich im September in Prag ein und wurde am 26. dieses Monats als Vizekanzler installiert. Ausdrücklich betonte Khlesl bei Ulms Vorstellung in der Kanzlei, daß diesem der Kaiser deren Reformation Vorbehalten habe J11). Wenn Ulm in einem wenige Tage später an den Erzkanzler gerichteten Schreiben über das „chaos laborum“ klagt, das er bei Übernahme seines Amtes vorgefunden habe 112), so erscheint dies io») Ygl_ Chr oust, Briefe u. Akten, 10, 189 u. 201, 203, und Ritter, Deutsche Gesdi., 2, 381. 109) Mainzer Wahl- u. Krön. A. 8 a, Nr. 115, Auszug bei Chr oust, Briefe u. Akt., 10, 595, Anm. 4. llu) Vgl. C h r o u s t, Briefe u. Akten, 10, 609, Anm. 1, über Pucher vgl. S. 384 f. 111) Prot. d. geh. Rats v. 26. Sept. 1612 (R. H. R. Prot. rer. resol. saec. XVII, Nr. 22 a, fol. 4 v). 112) Vom 29. Sept. 1612 i. Mzer. R. K. 3. 3* 35