Lothar Groß: Inventare Teil 5. Band 1. Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559-1806 (1933)
VI. Biographische Daten und Betätigung der einzelnen Beamten - 1. Die Reichsvizekanzler
wirkte170). Von diesem Zeitpunkte an trat zweifellos ein Umschwung in Stralendorffs Stellung zu Rudolf II. ein. Im ersten Jahre seiner Vizekanzlerschaft — im Sommer 1607 erfolgte auch seine formelle Ernennung zum Vizekanzler — besaß er nach dem Zeugnis der verschiedensten Gewährsmänner großen Einfluß auf den Kaiser170a), der ihm mehrfache Gunstbezeugungen, wie die Erhebung in den Freiherrnstand, erwies. In der gerade damals anhängigen verhängnisvollen Donauwörther Streitsache war Stralendorff nebst Elannewald geradezu ausschlaggebend171). Später ist allerdings sein Einfluß bei Rudolf II. rasch gesunken, weil er, wie S t i e v e ausführte, im Zwiste des Kaisers mit Mathias eine Haltung beobachtete, die Rudolfs Mißfallen erregte. Trotz starker Einbuße in seiner Stellung hielt sich aber Stralendorff doch wenigstens soweit, daß er auf die Reichsgeschäfte eine wesentliche Ingerenz behielt und auch beim Kaiser, soferne sich dieser nicht ganz abschloß, zum Vortrage erscheinen durfte. Im Jahre 1609 muß er dann allerdings in Rudolfs Gunst stark gesunken sein, denn wir hören im April dieses Jahres, daß der Kaiser die Absicht hatte, an Stralendorffs Stelle Hegenmüller zum Vizekanzler zu machen 172). Im folgenden Jahre wurde er dann sogar vom Besuch des geheimen Rates ausgeschlossen. Diese Suspendierung, die aus Mißtrauen gegen ihn erfolgte, dauerte vom 4. Juni bis Mitte September173). Dann wurde sie vom Kaiser wieder aufgehoben und Stralendorff amtierte bis zu Rudolfs Tode als Vorstand der Reichskanzlei. Aber noch in den letzten Monaten seiner Regierung dachte der Kaiser an die Entfernung Stralendorffs und fand dabei beim Kurfürsten von Mainz, der schon damals Hans Ludwig von Ulm als Stralendorffs Nachfolger ins Auge faßte, Entgegenkommen 174), doch trat des Kaisers Tod dazwischen. Bei dieser Einstellung des Erzkanzlers kann es uns nicht verwundern, daß Stralendorff als Reichsvizekanzler des neuen Kaisers Mathias, dessen Wahl am 13. Juni 1612 erfolgte, nicht in Betracht kam. Vielmehr einigte sich Mathias mit Johann Schweikhard auf den von diesem bevorzugten bereits genannten Reichshofrat von Ulm 174 a). Zunächst hatte allerdings noch Stralendorff bei der Wiedereröffnung der Reichsarchive und der Wiederaufnahme des Kanzleibetriebes zu amtieren. Der Erzkanzler schickte ihm zu diesem Zwecke noch am 29. Juni sehr gemessene Aufträge, in denen er ihm befahl, auf die Wahrung der erzkanzlerischen Rechte zu achten und der bevorstehenden Enthebung Stralendorffs keine Erwähnung tat. Wohl aus diesem letzteren Grunde erregte das Schreiben auch den Unwillen des Bischofs Khlesl. Doch schon am 14. Juli schrieb der Kurfürst dem Kaiser über die Berufung Ulms und Mathias antwortete am 30. Juli mit dem 17°) A. O. Meyer 707 u. 712. 170 a) Vgl. jetzt auch Milena Linhartova, Ant. Caetani nuntii apóst, apud imperatorem epistulae et acta 1607—11, 1, 60 den Ber. Caetanos v. 16. Juli 1607. 171) Vgl. S t i e v e, Briefe u. Akt. 6, 74 f. u. Ursprung des dreißigjähr. Krieges 1, 51. 172) S t i e v e 6, 619. 17S) Vgl. Stralendorffs Schreiben an den Erzkanzler v. 28. Jan. 1612 i. Mzer. Wahl- u. Krön. A. 8 a, Nr. 50 u. das des letzteren an den Kaiser v. 17. Sept. 1610 bei Mayr, Briefe u. Akt. 8, 608, Anm. 1. 174) Vgl. das Schreiben d. Erzkzlers. an Barvitius v. 26. Dez. 1611 bei Ch roust, Briefe u. Akt. 10, 189. 174 a) Schreiben d. Erzkzlers. an Khlesl v. 16. Aug. 1612 i. Mzer. R. K. 3. 327