Historische Blätter 7. (1937)
Paul Kletler: Karl der Grosse und die Grundlegung der deutschen Kultur
fallen der Versbetonung mit der Betonung in der natürlichen Rede besteht. Da in den germanischen Sprachen die sinnschweren Silben immer auch die schallstarken sind, haben die Germanen die Rhythmik als etwas dem Geiste ihrer Sprache Gemäßes, ihnen Wesensverwandtes ergriffen und besonders die Deutschen haben damit die objektiven klassischen Metren gesprengt, wie ihre Ornamentik die organischen Formen des antiken Ornaments zerpflückt hat. So wurde der quantitierende klassische Vers, auf dem die rhythmischen Reihen ja doch beruhen, durch ein orientalisches Element seines Wesens beraubt, völlig umgeformt, germanisiert und fähig, sich dem impulsiven germanischen Gefühlsinhalt vollkommen anzuschmiegen. Ja, die Verschmelzung ging so weit, daß wir sogar richtige altdeutsche Rhythmik mit dem ganzen Reichtum und der Abwechslung der Senkungs- und Auftaktsilben in lateinischen Versen finden64, wie z. B. in der herrlichen karolingischen „Selbstanklage eines Sünders vor Gott“65. Aus tiefster Zerknirschung erhebt sich das Gedicht, getragen von seinen prachtvollen Rhythmen, bis zu dem ganz unchristlichen Ausbruch germanischen Trotzes einer Drohung gegen Gott: „Hab ich viel gesündigt, so wein ich auch bitterlich; du mußt dein Geschöpf retten ! Erhöre mich, damit wir nicht beide zugrunde gehen!“ Die Rhythmik bildet die Grundlage auch für den Versbau in deutscher Sprache bis zur Gegenwart. Aber auch in lateinischen klassischen Versmaßen wußten Alkvin und Walahfrid ihr germanisches Herz auszuschütten66, entstanden Dichtungen, die so deutsch waren wie das Waltharilied, und der kirchlichen Form der Sequenz bedienten sich deutsche Dichter in volkstümlichen Schwänken. Mit diesen Leistungen haben wir höchste und reinste Leistungen der deutschen Kultur genannt. Die Größe und der Glanz des altdeutschen Kaisertums, die ragenden romanischen Dome, die Wärme und Lebensnahe mittelalterlicher deutscher Dichtung, auch in lateinischer Sprache, beweisen die Fruchtbarkeit der Einschmelzung der Antike und des Christentums in das deutsche Wesen. Diese Leistungen leugnen, hieße, dem deutschen Volk seinen wertvollsten und eigentümlichsten Kulturbesitz absprechen. Wer sie aber bewundert und anerkennt, der muß auch die Wege und Elemente anerkennen, auf und aus denen sie ent64 Siehe bes. W. Meyer in Göttinger Nachrichten 1908. 65 MG. Poet. Lat. IV 484 ff. (Rhythmi X). 66 Vgl. etwa Alkvins ergreifendes Klagelied um eine Nachtigall, deren Gesang von der Rosenhecke her er immer gelauscht hatte (MG. Poet. Lat. I 274, n. LXI) oder Walahfrids bekanntes Mondgedicht „Ad amicum“ (Poet. Lat. II 403, n. LIX; dazu meine Deutsche Kultur 96). 30