Historische Blätter 4. (1931)

Ferdinand Bilger: „Großdeutsche“ Politik im Lager Radetzkys

entsagen kann 106. Es hat zwar jetzt ein größeres Ländergebiet als vor der Schlacht bei Jena, aber demungeachtet auch eine größere Territorialschwäche. Es ist der unförmlichste Staat, den es je auf dem Erdenrund gegeben hat. Seine Breite, selbst dort gerechnet, wo es am breitesten ist, hat gar kein Verhältnis zu seiner Länge, wenn man diese von Memel bis hinter den Rhein annimmt. Seine Besitzungen hängen in dieser großen Länge nicht einmal zusammen, sondern sind durch da­zwischenliegende fremde Besitzungen getrennt. Es ist ganz außer Stand, alle seine Grenzen zu verteidigen107. Rußland überflügelt es in der einen, Frankreich in der anderen Flanke, Österreich bedroht seine Front. Im Rücken hat es noch Schweden, Dänemark, Hannover und die Niederlande zu fürchten. Noch bestehende Staaten können von ihm große Ländergebiete zurückfordern. Esmuß daher unausgesetzt die Aufforderung empfinden, sich ab­zurunden 108. Es muß diese lebhaft wünschen, darf es aber nie aus­sprechen. Den schon mehrmals geäußerten Wunsch, Deutschland bis zum Main sich einzuverleiben, kann es nimmer auf­geben, weil darin daseinzigeMittel liegt, dem Staat eine dauernde Haltbarkeit zu verleihen109 und ihn zu einem festen Reich in Europa umzugestalten. So lang es diesen Zweck nicht erreichen kann, muß dieselbe Unstätigkeit seiner Bündnisse fort­walten, die es vor seiner letzten Katastrophe so wenig zu verhüllen ver­stand, und zwar weil dies der Kern seiner Politik ist110. Keines der nördlichen deutschen Bundesglieder darf daher jemals sich einschläfern lassen, und muß fortwährend die Überzeugung wach er­halten, daß die Gefahr, von Preußen verschlungen zu werden, als Da­moklesschwert über seinem Haupte schwebe. Österreich aber darf ebensowenig vergessen, daß es Preußen keine Vergrößerung gestatten kann111, daß sein eigener Ver­größerungsweg nach Südost weist, und daß es bei allen Unternehmungen in dieser Richtung sich den Rücken decken müsse 112.“ Dieses Urteil Radetzkys über den „Kern der Politik“ des preußi­schen Staates ist ebenso erstaunlich durch die Tiefe seines historischen Erkennens wie durch die rücksichtslose politische Folgerung für den loo-in yon mir unterstrichen. Nicht in gleicher Schärfe, aber doch in der Hauptsache in gleicher Richtung bewegt sich die Stellung Metternichs zu Preußen. Vgl. dazu Srbik a. a. O. I. 578, II. 113, 382, aber auch II. 415. 112 A. a. O. S. 432 f. Die Zollvereinspläne Preußens waren zur Zeit der Niederschrift dieser Denkschrift noch unbekannt. 27

Next

/
Oldalképek
Tartalom