Historische Blaetter 3. (1921-1922)

Heinrich R. v. Srbik: Die deutsche Einheitsfrage in der Frankfurter Nationalversammlung

auch der Herzen, und ist es in hohem Maße bis heute geblieben; er hat die Geschicke des deutschen Volkes, der Staaten und jedes ein­zelnen von uns bestimmt, nach scheinbarer Beendigung ist er als eines der Ergebnisse tragischester Welterschütterungen wieder aufgelebt, und an seinem Ausgange haftet die Entscheidung über die deutsche Zukunft. Wer wird es nicht begreifen, daiß die Glrenzen zwischen Geschichtswissenschaft und Politik verschwinden, wenn solche Lebens­schwere den Historiker umfängt? Anderthalb Jahrzehnte lang bot der erneuerte deutsche Bund das Schauspiel schmerzlichen Reifens der Nation zur Austragung der tiefen in Frankfurt ins allgemeine Bewußt­sein getretenen Gegensätze. Als dann Bismarck um den Opferpreis der Deutschen Österreichs der Mehrheit der Nation den Nationalstaat geschaffen hatte, da fiel auf die Kleindeutschen der Paulskirche der helle Glanz des neuen Reiches; die unterlegene großdeutsche Idee erschien |den Siegern ein Halbjahrhundert lang zumeist als Utopie erwiesen und von der „Einigung des deutschen Volkes“ wurde gesprochen, als ob das Gebiet der Kultumation mit dem des deut­schen Staatsvolkes zusammenfiele. Rückblickend spiegelte die Ge­schichtsschreibung die Stimmung der Mehrheit dies Reiches wider. Nun zerbrach in unseren düstersten Tagen zwar nicht die Bismarck- sche Reichsschöpfung, aber doch, um mit Treitschke zu reden, das heilige preußische Reich deutscher Nation, mit der Auflösung Öster­reich-Ungarns, der Entthronung der Herrscherhäuser flammte, als Rettungsanker in tiefster Not von Hunderttausenden ergriffen, der Gedanke des Anschlusses Deutschösterreichs an das Mutterland auf, eine Partei entstand in Österreich1, die sich mit bewußter Anlehnung an die Frankfurter Parteigruppierung großdeutsch nennt, und eine Publizistik sproß empor, die sich' die jüngste kleindeutsche Vergan­genheit zum Objekte leidenschaftlicher Verurteilung erwählte. Ein! unhistorischer und pietätloser Radikalismus, wie Hermann Oncken kürzlich mit Recht sagte, macht sich geltend, der die Vergangenheit verleugnet und auf die kleindeutsche Epoche des Reichs wie auf einen Irrweg zurückblickt. Ihm tritt ein hochachtbarer nationaler Idealismus zur Seite, der letzten Endes die Geschichte doch auch zur Dienerin der Politik macht und den Stab über eine trotz allem unverlierbare Heroenzeit deutscher Geschichte bricht, ohne sich über die realen Möglichkeiten der Vergangenheit ganz klar zu sein. In geänderter Form leben alle die alten Gegenkräfte, die der engeren Nationalstaatsbildung unseres Volkes entgegenstanden, im Dienste eines sozialen, religiösen oder nationalen Zukunftsideales wieder auf und blenden die Sehkraft des Historikers.

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