Historische Blaetter 2. (1921)

G. v. Below: Zur Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft

ersetzte. Erleichtert wurde ihnen der Anschluß an diesen Positivis­mus, weil er, soweit sein wissenschaftlich tragfähiger Inhalt reichte, die von der romantischen Forschung gewonnenen Erkenntnisse über­nahm. So finden wir in hiefür klassischer Verbindung hei Scherer ein reiches und starkes Erbe der Romantik, ergänzt mehrfach durch das Vorbild der Aktivität der politischen Geschichtsschreibung, ver­brämt, übermalt, verschoben durch Comteschen Naturalismus L Der strenge Positivismus ist, wie man treffend gesagt hat, ein Unding: er existiert nur dadurch, daß sein Prinzip von seinen- Be­kennem bei jedem Schritt verleugnet wird. Für den konsequenten Positivisten dürfte es keine Geologie, keine Paläontologie, keine Ge­schichtswissenschaft, ja überhaupt keine Wissenschaft geben. Denn die Vergangenheit ist auf keine Weise mehr als Erfahrung erlebbar, und jeder Analogieschluß überschreitet die Grenzen des Gegebenen. Solche absurde Konsequenzen zieht freilich kein Positivist; in der Praxis handeln die Positivisten nicht danach. Aber nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Theorie wird das schnöde ver­183 1 Kothacker, S. 250, spricht mit Rücksicht darauf, daß man Lamprechts Forde­rung der Aufstellung historischer Gesetze und seinen Kollektivismus dem Positivismus zugesprochen habe, von „der gänzlichen Verkennung, in welche die eigentümliche Geistesrichtung romantisch-organischer Geschichtsauffassung im letzten Drittel des (19.) Jahrhunderts gefallen war“. Er bestreitet nicht, daß Lamprechts System positivistische Elemente enthält. Er macht aber mit vollem Recht geltend, daß vor dem Positivismus die Romantik die überindividuellen geschichtlichen Faktoren in so umfassendem Maß betont hat, daß man wirklich den Positivismus nicht nötig gehabt hat, um eine Geschichtsauffassung hervorzubringen, die diese in den Vordergrund stellte. Hier stimme ich Rothacker um so mehr zu, als ich stets von Lamprecht und vom Positivismus gleichmäßig geltend gemacht habe, daß das Brauchbare, was sie bieten, nicht neu ist (vgl. Rothacker, S. 250, A. 2). Die Frage wäre nur: hat Lamprecht an die, dem Positivismus vorausgehende, romantische Literatur bewußt angeknüpft oder an die positivistische? Die Antwort wird lauten, daß sich bei ihm viel und mannigfache Reminiszenzen, meistens ohne bewußte Anknüpfung, vereinigen, daß der Ursprung seines Systems halb zufälliger Natur, daß seine Ausbildung teilweise Reaktion gegen die ungünstige Aufnahme, die die ersten Bände seiner „Deutschen Geschichte“ fanden, ist, daß er sich dann aber mit starkem Willen seinen Weg bahnte, wobei ihn namentlich der Gedanke leitete, die moderne Auffassung verlange die gleichartige Behandlung von Geschichte und Naturwissenschaft. Bewußt hat er an bestimmte ältere romantische Literatur kaum, eher an positivistische (z. B. an einige positivistische Wendungen bei Wundt) angeknüpft. Vgl. hiezu meine Bemerkungen in der Histor. Ztschr. Bd. 84, S. 153 f., und Bd. 94, S. 450. Die Tatsache der „gänzlichen Verkennung, in welche die eigen­tümliche Geistesrichtung romantisch-organischer Geschichtsauffassung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gefallen war“, ist natürlich unbestreitbar, und auch darin hat Rothacker recht, daß diese Verkennung in den Beurteilungen, die Lam­prechts Schriften und sein System gefunden haben, hervortritt, übrigens weit mehr bei seinen Lobrednern als bei seinen Kritikern. Zur Beurteilung Lamprechts vgl. noch Histor. Ztschr., Bd. 80, S. 156 und 342; 82, S. 567; 84, S. 346; m. „Parteiamt.l. neue Geschichtsauffassung“, S. 32; m. „Probleme der Wirtschaftsgeschichte“, S. 6, Anm. 1.

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