Pester Lloyd-Kalender 1859 (Pest)
Pester Lloyd-Kalender für das Jahr 1859 - Geschichte des Jahres
158 Geschichte des Jahres. Schwurformel an dem Eintritte in das Haus selber, keineswegs aber an dem Eintritte in parlamentarische Ausschüsse gebindert werde. Don dem Augenblicke an konnte Niemand mehr daran zweifeln, daß die Lords endlich würden nachgeben müssen: erklärten doch die Liberalen des Unterhauses geradezu, unter keiner an- f i deren Bedingung länger das den Peers so willkommene Toryminiftcrium dulden zu wollen. So erlangte denn die, dieJudenzulassende Modification desParlamentseides Gesetzeskraft, ziemlich gleichzeitig mit der Jndia-Bill vom 2. August, welche die Compagnie beseitigte und die Derwaltung des angloindischen Reiches einem eigenen Staatsminister übertrug. Sobald der Kaiser klar die Nothwendigkeit, sich mit dem Torykabinete zu vertragen einsah, ließ er daher die Asylfrage, obschon er auch nicht das leiseste Zugeständniß erlangt hatte, ruhig in dem Saude verlaufen; und beschloß, für diese Mäßigung, als Entschädigung gleichsam für die erlittene Niederlage ein anderes Opfer von Lord Derby zu fordern. Eine Fremdenbill war nicht zu erreichen gewesen; Napoleon in. mußte die Nation, so zu sagen, für den kläglich verpufften Lärm officieller Reden, Depeschen und Adressen durch ein regelrechtes Feuerwerk indem- nisiren. Die bevorstehenden Festivitäten zur Einweihung der neuen Häfen und Werke von Cherbourg boten eine herrliche Gelegenheit dazu: gelang es, die Räthe der Königin Victoria so weit zu gewinnen, daß die Monarchin selber diese Festlichkeiten durch ihre Gegenwart verherrlichte, so war der französischen Eitelkeit ein Schauspiel geboten, das die guten Pariser wieder in jene Zeiten des orientalischen Krieges zurückversetzte, wo Napoleon in London und seine erlauchte Bundesgenossin in der Hauptstadt Frankreichs eine so enthusiastische Aufnahme fanden. Französischer Seits con- centrirte man demnach alle Anstrengungen auf dies Eine Projekt. Die Stimmung des englischen Volkes, und man sagt selbst diejenige der Königin, war immer noch derartig, daß das Tuilerienkabinet es als keinen geringen Erfolg beobachten durfte, als endlich die bestimmte Zusage von der andern Seite des Kanales ein- gelaufen war. Die Presse Londons faßte die Zumuthung geradezu in dem Lichte auf, daß die Einladung keinen anderen Zweck habe, als d'en, das britische Volk in der Person seiner Beherrscherin zu verhöhnen, da ja die Cherbourger Bauten gegen Niemand als gegen Großbritannien gerichtet sein könnten. Die „Times" sogar scheute sich nicht, dieser Anschauung in den derbsten Worten Ausdruck zu geben: und, wie es heißt, mußte nicht nur Napoleon einen eigenhändigen Brief an Ihre Majestät richten, sondern auch Lord Derby mit seiner Entlassung drohen, um seiner Souveränin die Annahme der Invitation abzudringen. Auch nachher behaupteten die englischen Blätter, die Königin werde sich von einer so starken Flotte hinübergeleiten lassen lassen, daß ihre Ankunft eher das Aussehen einer Gegendemonstration, als das eines freundschaftlichen Besuches gewinnen werde; überdies werde sie ihr Flaggenschiff, also den I britischen Boden nicht verlassen und namentlich das französische Festland nicht betreten. Alle diese Voraussagungen zerfielen in nichts. Ein kleines Geschwader führte am 5. August die Fürstin nach Cherbourg und hier acceptirte fte nicht nur ein Diner am Bord des kaiserlichen Schiffes „Bretagne", sondern Tages darauf auch ein Frühstück am Lande in der Seepräfektur: dann aber reiste sie ab, ohne der Füllung des Kriegshafen- bassin's oder der Enthüllung der Statue Napoleons I. betzuwohnen. Die zahlreichen Reden und Toaste des Kaisers während der Feierlichkeiten jvom 5. bis zum 8. trugen ohne Ausnahme das Gepräge friedlichster Gesinnung zur Schau. „Cherbourg — sägte er namentlich bei der Enthüllung der Statue — Cherbourg hat nichts Beunruhigendes; denn mächtige Nationen appelliren nur an die Waffen, wenn sie ihre Ehre oder schwer wiegende Interessen zu vertheidigen haben. Frankreich wird seinen Nachbarn zeigen, daß es seine gewaltigen Mittel im Frieden zu entwickeln ver- steht und vorübergehende Aufwallungen zu beherrschen weiß, indem es einzig den Geboten der Ehre und der Vernunft gehorcht." Der Kaiser und die Kaiserin, die ihr Gemahl — um dem ungelegenen Ansuchen derer zu entgehen, welche diesen Posten für den Prinzen Napoleon wünschten — noch an Bord der „Bretagne" zum Großadmiral von Frankreich ernannt hatte, setzten ihre Fahrt nach Brest fort, wo. sie die Huldigungen des Klerus und des ftrengkatholischen, noch vor wenigen Decennien auch so eifrig, ja fanatisch legitimistischen Landvolkes entgegennabmen. Auch in Frankreich war mittlerweile mindestens in so ferne ein Umschwung eingetreten, als das ungemildcrte System der Herrschaft des Sicherhcitsgesetzes sein Ende erreicht hatte. Das Land und namentlich die Presse knüpften große Hoffnungen daran, daß am 14. Juni der Senator und Jurist Delangle den General Despinasse im Ministerium des Innern abgelöst hatte und gleichzeitig ein eigenes Ministerium Algeriens und der Colonien für den Prinzen Napoleon geschaffen war, dessen Vater Jerome außerdem das Recht, in Abwesenheit des Kaisers den Berathungen des Ministerrathes zu präsidiren erhielt. Durch das berühmte Rentengesetz, welches allen frommen Stiftungen anbefahl, ihre liegenden Gründe zu verkaufen und den Erlös Zn Staatspapieren anzulegen, hatte Despinasse auch den Klerus gegen sich aufgebracht: das unselige Duell, zudem mehrere Offiziere, darunter ein Berwandter des Ministers, wie es heißt, auf dessen ausdrücklichen Befehl, den Redacteur des Figaro, Pene, nöthigten und in dem dieser beinahe das Leben verlor, weil er sich einige schlechte Witze über das französische Militär erlaubt, hatte in der ganzen französischen Gesellschaft, deren Gleichheitsideen es durch den Appell an Kastenvorurtheile aufs tiefste verletzte, einen Sturm des Unwillens hervorgerufen. Die Cherbourger Festlichkeiten hatten ebenfalls einen erfreu- ichen Nachklang. Bei der Eröffnung der Departemen- | talräthe hielten zwei der intimsten Vertrauten des Kai-