Leo Santifaller: Ergänzungsband 2/1. Festschrift zur Feier des 200 jährigen Bestandes des HHStA 2 Bände (1949)
I. Archiv-Wissenschaften - 1. Norbert Bischoff (Moskau): Einige Notizen über Geschichte und Organisation des Archivwesens der Sowjetunion
Geschichte und Organisation des Archivwesens in der Sowjetunion. 5 Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik vom 1. Juni 1918 dar, durch das alle Archive staatlicher Verwaltungen des Zarenreiches als selbständige Körper liquidiert und ihre Bestände in einen einheitlichen Staatlichen Archivfonds überführt werden, zu dessen Leitung eine Archivhauptdirektion geschaffen wird. In den einheitlichen Archivfonds haben auch die bei den neuen Sowjetbehörden erwachsenden Akten nach festzusetzenden Fristen1) einzugehen. Eine lange Reihe von Dekreten aus den folgenden Jahren vereinheitlicht das Archivwesen in den Gouvernements und Bezirken sowie in den Bundes- und den Autonomen Republiken. Ständig wird der Kreis der archivpflichtigen Materialien erweitert. Gegen 1925 konnte die Konzentrierung der vorrevolutionären Fonds in der Hauptsache als abgeschlossen betrachtet werden. Es begann die Einbeziehung der neuen sowjetischen Archivalien. Die Archivbenützung zu praktischen und wissenschaftlichen Zwecken stieg beträchtlich. Die ersten planmäßigen Dokumentenpublikationen erschienen. Aber sehr große Teile des gewaltigen Fonds blieben wegen mangelhafter oder fehlender Inventarisierung unbenutzbar. Die vorhandenen Kaders an sachkundigem Archivpersonal reichten zur Bewältigung einer so überaus umfangreichen und politisch hervorragend bedeutungsvollen Arbeit nicht annähernd aus. Zur Beschleunigung und gleichzeitig zur politischen Sicherung dieser Arbeit wurde die Archivhauptdirektion, die bisher dem Volkskommissariat für Unterricht unterstanden war, im Jahre 1929 unter der Bezeichnung „Zentrale Archivdirektion“ dem Zentralexekutivkomitee der Partei unterstellt. Im folgenden Jahre versuchte man auch die Kaderfrage zu lösen und gründete zu diesem Zweck ein eigenes „Istoriko-Archiwnyi Institut“ mit zweijährigem Lehrgang, das sich jedoch zunächst nur langsam zu entwickeln vermochte. Die erste Absolventengruppe, die im Jahre 1933 ihr Studium abschloß, betrug — 12 Mann! „Ein Tropfen im Ozean!“, wie der Historiker jener Periode des sowjetischen Archivwesens, A. W. Tschernow, ausruft. Denn immer rascher wuchsen inzwischen die Anforderungen, die die seit 1929 eingeführte Planwirtschaft an die Leistungsfähigkeit der Archive zu stellen gezwungen war. Immer drückender machte sich die Unzulänglichkeit des Archivapparates, namentlich die durch fehlende Inventarisierungen bewirkte Unbenützbarkeit wichtiger Fonds geltend. Mit Beschluß vom 27. Juni 1935 schuf daher das Präsidium des Zentralexekutivkomitees die Voraussetzungen für eine rasche und definitive Beseitigung dieser Unzukömmlichkeiten. In den Jahren 1935 bis 1937 konnten auf Grund dieser Voraussetzungen 54 Millionen „Verwahrungseinheiten“ registriert, davon 25 Millionen inventarisiert und 42% Milhonen revidiert werden. Am 1. Jänner 1938 waren von den annähernd 120 Millionen Verwahrungseinheiten der staatlichen Archive 85 Millionen (71%) inventarisiert, 14 Millionen (11%%) bloß registriert und 21 Millionen (17%%) noch völlig unbearbeitet. Allerdings umfaßt dieser letztere Teil vornehmlich Bestände der Archive von sekundärer Bedeutung, während von den Beständen der hauptsächlichsten Archivkörper nach zweieinhalb jähriger Arbeit von ungewöhnlicher Intensität zum Jahresbeginn 1938 bereits 88% inventarisiert und damit voll benutzbar gemacht waren. Nachdem so die Ordnungsarbeit bis nahe an ihren — inzwischen im wesentlichen erzielten — Abschluß herangeführt worden war, wurde das Archiv wesen wieder aus dem Parteirahmen gelöst und in die staatliche Verwaltung rückgegliedert. Die „Zentrale Archivdirektion“ wurde im Jahre 1938 dem Volkskommissariat für Inneres unterstellt und erhielt noch im selben Jahre ihre alte Bezeichnung „Archivhauptdirektion“ (Glawnoje Archiwnoje Uprawljenije) zurück. Dieser gesamte komplizierte Organisierungsprozeß, der auch von zahlreichen systematischen Umdispositionen über Teile des Archivfonds begleitet war, fand seinen Abschluß 1) Derzeit sind diese Fristen, die mit dem Abschluß des Vorganges zu laufen beginnen, wie folgt festgesetzt: Behörden bis zur Kreisbehörde 10 Jahre, Bezirks- bzw. Stadtbehörden 5 Jahre, Dorfsowjets und Kolchosen 3 Jahre, Phono-, Photo-, Kinodokumente 3 Jahre.