Budapest und Wien. Technischer Fortschritt und urbaner Aufschwung im 19. Jahrhundert - Veröffentlichungen des Wiener Stadt- und Landesarchivs 9. - Beiträge zur Stadtgeschichte 7. (Budapest - Wien, 2003)

Zsuzsa Frisnyák: Städtischer Verkehr

118 In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts platzte das Auto als neue Gefahrenquelle in langsam zur Gewohnheit gewordenen städtischen Straßenverkehr hinein.1 Von da an wurde das Attackieren der „brutal rasenden“ Automobilisten zum Thema. Wieso salutiert der Polizist, wenn er einen Herrn aus dem Kasino im Wagen sieht, auch wenn dieser ihn fast niederfährt?1 2 Fußgänger, Lohnkutscher, Gespannpassagiere mfen den in den Auto Sitzenden ausgesuchte Grobheiten zu, und Burschen bewerfen die teuren und empfindlichen Fahrzeuge mit Steinen. Trotz aller Klagen nahm der Gebrauch der Straßenverkehrsfahrzeuge durch die Stadtbewohner in immer größerem, obwohl mit dem fußläufigen Verkehr natürlich nicht vergleichbarem Maß zu. Der Anzahl der jährlichen Fahrten pro Bewohner vergrößerte sich mit kleineren oder größeren Schwankungen. 1874 entfielen pro Jahr 37, 1914 schon 264 Fahrten auf jeden Stadtbewohner. (.Diagramm 4) Die Jahre 1885 und 1896, in denen zwei landesweite Ausstellungen stattfanden, brachten ein herausragendes Verkehrswachstum mit sich. Interessanterweise war im Jahr nach der Schließung der Ausstellungen der Verkehr, bzw. die Anzahl der Fahrten pro Person und Jahr verglichen mit der Zunahme in viel größerem Ausmaß zurückgegangen, als ob nicht nur die die Ausstellungen besichtigenden Fremden nach Hause gefahren wären, sondern die am Ort Wohnenden Fahrkosten einsparen hätten wollten. Die Anzahl der Fahrten pro Person beleuchtet aber nicht nur das Ausmaß der Zunahme des Fahrzeugsgebrauchs, sondern auch den Verbreitungsgrad des 1 Ausschnitt aus dem humorvollen, aber den Zeitgeist gut ausdrückenden Gedicht, Véres sport (Blutiger Sport). Borsszem Jankó, 6. Juli 1902. “Ki országúton andalog,, Vagy népes utcán jár gyalog Nem tudja, sejti voltaképp Folyton sírja szélére lép. Míg kitér gyorshajtó elül A villamos alá kerül. Wer auf der Landstraße dahinwandelt oder zu Fuß auf die bevölkerte Straße geht Weiß, oder ahnt es eigentlich nicht, dass er immerzu vor sein Grab tritt. Weil er dem Raser ausweicht, unter die Straßenbahn er fällt. S hol menekvésre rése nyíl, Und wo sich die Rettung ergibt, Elgázolja automobil.” das Automobil ihn überfährt. 2 Der Dichter Endre Ady weist in einem seiner Feuilletons auf den Unterschied zwischen dem nagelneuen technischen Verkehrsmittel und dem Menschen, der es benutzt, hin. „Waren Sie nicht auch schon bestürzt, wenn sie einen feudalistischen, stolzen Magnat in einem Automobil sahen? Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, diese Kreatur lebt mit seiner Sehnsucht und Willen, mit seinem ganzen kleinen primitiven Wesen, und er wagt es, sich in die neueste, sich bewegende Maschine des modernen, menschlichen Fortschrittes zu setzen. So sind wir. Unsere Post und Bahn, unser Telefonapparat und Parlamentspalast, unser Orpheum und Elend, unsere Krankheit und alles, alles was Äußerlichkeit ist, ist verdammt fein.” Endre Ady, Jókai szobra [Die Statue Jókais], Budapesti Napló, 26. Februar 1905.

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