Gerle János: Die Jahrhundertwerde - Unser Budapest (Budapest, 1993)
Stadt. Es findet sich auch nicht ein Stadtteil unter denen, die vor fünfzig Jahren schon bebaut waren, dem die Spuren dieser gewaltigen Umwandlung nicht anzusehen wären. Die Dichte der auf Stadtplänen als Häuser der Jahrhundertwende gekennzeichneten Markierungen ist an den einzelnen Punkten verschieden, doch wer mit wachem Sinn für die Sezession (Jugendstil, Art Nouveau) und die nationale Romantik durch die Stadt geht, wird sowohl in der Innenstadt als auch in den Industrievierteln, in den Budaer Bergen oder den einstigen Zentren der Randbezirke auf Schritt und Tritt Entdeckungen machen. (Pestszenterzsébet, Újpest, Kispest, Rákospalota haben ihre charakteristischen Gesichtszüge, ihre „ethnischen“ Eigenarten verloren, als Opfer der Bulldozer, für eine in diesen Außenstädten auf Eigennutz gerichtete Systematisierungskonzeption. Den Platz der Ansässigen nahmen Budapester ein, die weder über das lokale Einfühlungsvermögen verfügten, noch einen Blick für die Eigenartigkeit dieser Orte bekommen konnten, da sie schon weitgehend zerstört waren.) Für einen Fremden muß es immer wieder überraschend sein, wieviel dennoch trotz Kriegszerstörungen und Bulldozern im Vergleich zu Westeuropa aus der Zeit der Jahrhundertwende erhalten geblieben ist. Im Inneren der Stadt - selbst wenn Eingeweihte wissen, daß es einst kein Eckhaus ohne Turm, keine Fenster ohne Rahmen und keine Wohnhäuser ohne Läden im Erdgeschoß gab - zeigen die Straßenbilder Formgeschlossenheit, und die einstmals revolutionär neuen Gebäude, die dem Zeitgenossen seinerzeit das Stadtbild auf unerträgliche Art zerstörten, fügen sich in das geschichtlich gewachsene Ensemble harmonisch ein. (Nur um ein Beispiel zu erwähnen, der Palast der Anker Versicherung am Deák tér löste unter den Bürgern einen gewaltigen Skandal aus. Laut einer Anekdote soll die Frau des Architekten, als sie ihr Mann mit einem Fiaker dorthin führte, um ihr sein neues Werk zu zeigen, ausgerufen haben: Aber das ist doch eine Schande! Wem käme heute noch der Gedanke, daß dieses protzige Prunkgebäude kein organischer und unentbehrlicher Teil von Budapest wäre?) (ind gerade heute muß uns diese Harmonie gefährdet erscheinen, da wir dank der vom erwachenden (Jmweltbewußtsein erstarkten Stadtschützerbewegung beginnen, unsere Bauschätze zu achten. Budapest ist mit dem Wechsel des Wirtschaftssystems von der in Europa schon längst als beschämend empfundenen Abrißdrohung maßlos bedroht. (Erschreckende Perspektiven eröffnet die Tatsache, daß der Budapester Große Ring (Nagykörút) im Sommer 1992 nicht durch angelsächsische Fliegerbomben oder russische Panzereinsätze zahnlückig geworden ist, sondern durch Geschäftsspekulationen. Es bleibt zu hoffen, daß unser Wegführer nie zu einem bloßen Erinnerungsalbum wird.) 7