Gerle János: Die Jahrhundertwerde - Unser Budapest (Budapest, 1993)
Die Budapester Architektur der Jahrhundertwende sorgt für einen immerwährenden Eindruck. Wie jedoch läßt sie sich innerhalb der Stadtgrenzen beschreiben? Man müßte zuerst allgemein von den ungarischen Besonderheiten sprechen, die ohne die Kenntnis der gesamten Epoche wiederum kaum verständlich sind. Hier aber drehen wir die Sache um. Gerade Budapest gestattet diese Umkehrung. An den Formzeichen der hiesigen Architektur lassen sich beispielhaft alle bedeutenden geistigen Strömungen der Epoche entdecken. Diese Beispiele, ob als Ruinen, erneuert, umgestaltet oder im ursprünglichen Zustand, sie bewahren getreu die Zeichen eines natürlichen, fraglos internationalen Zusammenwirkens und Zusammendenkens eines europäischen Bewußtseins. Und was das Besondere ist: mehr als die Zentren einer ausstrahlenden Jahrhundertwendekunst - Paris, München, Brüssel oder Wien - schuf Budapest die ihm eigenen Charaktermerkmale, ohne der sofortigen Kanonisierung zu unterliegen. Jene schufen ihre typischen Züge und strahlten sie nach außen ab, doch selbst empfangen, das konnten sie nicht. Das war das Charakteristische an den Städten der Peripherie. Aber auch im Raum des östlichen Mitteleuropa hat Budapest eine besondere Stellung, sowohl zur Jahrhundertwende als auch heute. Die Stadt hat sehr tiefgreifende und kulturell eigenständige Wurzeln, die in einer Zeit des Drangs nach Unabhängigkeit (jetzt wie damals) in rascher Strömung Mythen einer uralten Kultur nahebringen und wachrufen. Die Sehnsucht nach politischer Unabhängigkeit trägt die Fähigkeit zu einer vielfältigen Öffnung und Empfänglichkeit gegenüber wirklich breitesten Kreisen von Einflüssen in sich, was sich aus der Rolle dieser Stadt als traditionswiederbelebende Brücke und Grenze ergibt. Hier treffen also - und das gilt auch auf Landesebene - der Wille zur Neuschaffung einer eigenständigen Kultur zur Symbolisierung der politischen Unabhängigkeit, der Glaube an die in der ungarischen Geschichte verborgenen Grundlagen einer Neugeburt, die Bereitschaft zum Aufnehmen verschiedenster Einflüsse und Impulse sowie die durch den Wirtschaftsaufschwung zum Ende des Jahrhunderts gesicherte Möglichkeit zusammen, den Ideen auch wirklich Gestalt zu geben. Wie erlebt all dies wohl einer, der als Fremder nach Budapest gerät? Zunächst einmal sieht er, daß Budapest eine Weltstadt ist. Nicht etwa, weil sie versucht, sich den Erwartungen des internationalen Tourismus anzugleichen. Budapest ist eine Weltstadt, weil durch verschiedene Schauplätze im Fremden die Atmosphäre des Daheimseins geweckt wird. Unbestreitbar spielt dabei die Entwicklung dieser Stadt zur Jahrhundertwende eine bedeutende Rolle, denn trotz aller inzwischen erlitte5