Gerle János: Die Jahrhundertwerde - Unser Budapest (Budapest, 1993)

Entwicklung der Architektur bestimmt hatten, das erste Mal Aktionsraum. Die Ausstellung fand im Városliget (Stadtwäld­chen) statt. Von den damaligen technischen Neuheiten ist die für die Besucher erbaute Untergrundbahn (nach London die zweite in Europa!) heute noch in Betrieb, auch wenn ihre Streckenführung gerade im Városliget verändert worden ist. Außerdem steht noch die Spannbetonbrücke, die mit ihrer Breite von fast zehn Metern damals ebenfalls als Rekordhalter galt. Von den Gebäuden ist das zentrale, die Halle der Ge­schichtsausstellung, die jetzige Burg Vajdahunyad (heute Mu­seum für Landwirtschaft), auch jetzt noch zu sehen. Auf Wunsch der Bewohner der Hauptstadt wurde der seinerzeit provisorische Baustoff durch einen beständigen ersetzt und die Burg 1907 als festes Gebäude neu errichtet. Es represän- tiert die konservative Richtung der nationalen Form des Histo­rismus und ist mit seiner Montage von architektonisch-histori­schen Zitaten, denn jedes Element stellt eine Kopie oder Variante von Details vorhandenener Kunstdenkmäler Un­garns dar, zugleich ein Vorbote des „Neohistorismus“. Unter den Richtungen der Jahrhundertwende gewannen jene breiten Raum, die von der Bestrebung geprägt waren, sich stilistisch an große oder ruhmvolle Geschichtsperioden anlehnend die neue nationale Formsprache herauszugestal­ten. Ein beredtes Beispiel dafür ist das Wiedererwecken der Giebelkrönung aus der Renaissance des Oberlandes in den Arbeiten Jenő Lechners (XI. Mészöly utca 4, 1910). Aber als wahrhaft fortgeschrittenste Variante des Historismus ist die „Ungarische Volksromantik', wie sie im Ausland vielfach ge­nannt wird, anzusehen, die ihre Vorbilder in den Architekturen des urständigen Bauerntums und in deren Ebenbild, wie es in der Architektur des Mittelalters überliefert wurde, vorgefun­den hatte. Das Gegenstück zur Burg Vajdahunyad ist das Museum für Kunstgewerbe von Ödön Lechner. Beide sind national reprä­sentative Werke, geschaffen zum tausendjährigen Jubiläum der Landnahme. Ersteres, ein Werk von Ignác Alpár, wieder­spiegelt getreu den offiziellen Standpunkt, nach dem die Zukunft auf jenes Kulturerbe begründet werden sollte, das Ungarn seit der Annahme des Christentums als Geschenk der westeuropäischen kulturellen Entwicklung zukam. Lechner greift dagegen auf die Tradition zurück, welche von den der Christianisierung vorausgegangenen kulturellen Einwirkun­gen geformt worden war, also auf die Volkskunst, die über Jahrhunderte manche Analogien zu den indischen und persi­schen Formen bewahrt hatte und somit die Hypothese der architektonischen Verwandtschaft stützt. Diese Zweiheit charakterisiert die theoretische Hauptfrage der ungarischen Architektur um die Jahrhundertwende gut: 10

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