Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)

Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel Österreichischer Berichte aus China

Georg Lehner - Monika Lehner Die unübersichtliche Lage veranlasste Kottowitz zur Annahme, dass die chinesische Seite alles daran setze, die kooperierenden Mächte „über die Sachlage zu täuschen“, um Truppensendungen aus Europa zu verzögern und Zeit zu gewinnen, alle zur Verfügung stehenden Hilfskräfte zu sammeln, einzelne Punkte der Straße gegen Peking, sowie die Mauern Pekings selbst zu armieren und zu befestigen, um dann womöglich einen entscheidenden Erfolg gegen die europäischen Truppen zu erzielen.2“ Um die im Changjiang liegenden Schiffe der chinesischen Flotte zu neutralisieren, musste man deren Bewegungen verhindern. Einhellig wurde jedoch die Meinung vertreten, alles zu vermeiden, wodurch sich die Generalgouvemeure und Gouverneure der Provinzen Zentralchinas wieder dem Qing-Hof zuwenden könnten. Um die Verlässlichkeit von Yuan Shikai überprüfen zu können, trat Kottowitz in der Konferenz der Befehlshaber dafür ein, durch Yuan das Zongli Yamen aufzufordem, eine von sämtlichen noch lebenden Gesandten Unterzeichnete Note an die vor Dagu liegenden Kriegsschiffe gelangen zu lassen. Der Antrag wurde angenommen. In der Sitzung vom 24. Juli wurde schließlich verlautbart, dass Li Hongzhang wieder zum Generalgouvemeur der Provinz Zhili ernannt wurde und die Absicht habe, sich „persönlich“ den anwesenden Admirälen vorzustellen. Schon damals erhob der deutsche Vizeadmiral Bendemann Bedenken gegen eine Landung Li’s in Dagu.* 267 Die kommandierenden Offiziere der kooperierenden Truppen einigten sich am 24. Juli darauf, dass nach dem Fall von Tianjin die Aufmerksamkeit nun dem Entsatz der Gesandtschaften in Beijing zuzuwenden sei: „Zur Erreichung dieses Zweckes müssen jetzt alle Mittel verwendet werden und muss jede andere Rücksichtnahme in den Hintergrund treten.“ Die ranghöchsten Befehlshaber auf der Reede von Dagu wurden damals auch durch Meldungen über chinesische Rüstungen am Changjiang beunruhigt. Die zu jenem Zeitpunkt an der chinesischen Küste zusammengezogenen fremden Truppen waren numerisch jedoch zu schwach, um auch den Changjiang strategisch zu sichern. Die schwankende Haltung der Provinzialverwaltungen des Changjiang-Tales wurde in Dagu jedoch als gutes Omen gedeutet. Man hoffte, dass die kooperierenden Mächte „erst dann im Yang- tse-Thale werden activ auftreten müssen, wenn die Europäer befreit sind, Peking erobert und zerstört ist.“ Kottowitz erhielt Ende Juli aus Tianjin Nachrichten über die Situation in Beijing: laut Meldungen, die bis zu den bei Beicang konzentrierten Qing-Truppen268 und von dort nach Tianjin und an die Küste gedrungen waren, hatten die in Beijing eingeschlossenen internationalen Detachements in der Nacht vom 8. auf den 9. Juli KA, MS/OK 1900-V-l 1/23, Nr. 2 048, S.M.S. „Zenta“ an RKM/MS, Res. No. 210, Taku, 23.7.1900. KA, MS/OK 1900-V-l 1/24, Nr. 2 108, S.M.S. „Zenta“ an RKM/MS, Res. No. 226, Taku, 29.7.1900 (Vorfallenheiten seit 22.7.1900). Die auch an den Kämpfen in Tianjin beteiligten Qing-Truppen waren in der zweiten Hälfte Juli im Raum Beicang zusammengezogen worden; vgl. dazu Li u Fenghan ( 1978), S. 690 f. 94

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