Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)

Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel Österreichischer Berichte aus China

Georg Lehner - Monika Lehner [...] und bin ich nun, bis der Commandant wieder aus Peking herauskann, der Vertreter Oesterreichs im europäischen Concerte vor Taku. Durch tägliche Conferenzen, die immer 3 bis 4 Stunden dauern, Aufsetzen von Telegrammen bin ich so in Anspruch genommen, daß ich gar nicht zum Schreiben komme.255 Am 8. Juni verfugte Kottowitz über keinerlei Nachrichten aus Beijing: „Habe seit 4. 6. keine Nachricht von meinem Commandanten. Bin neugierig, wie lange er eingeschlossen bleibt.“256 Nachrichten über die Zusammenziehung chinesischer Truppen im Raum Yangcun-Tianjin-Lutai forderten von den Admirälen rasche Entscheidungen. Am 9. Juni hatten sie vor Dagu den Entschluss gefasst, möglichst viele Truppen in Tianjin zu stationieren, dann zuerst die chinesischen Forts an der Peihomündung durch einen Rückenangriff zu nehmen, um uns dann den freien Verkehr am Flusse zu sichern und sodann mit dem Vormarsche gegen Peking zu beginnen. Diese weit reichenden Pläne waren jedoch obsolet geworden, nachdem der britische Gesandte Macdonald noch am 9. Juni telegraphisch um die „sofortige Einleitung einer Action“ zum Entsatz der Gesandtschaften gebeten hatte. Daraufhin habe sich Vizeadmiral Seymour nach Tianjin begeben, um das Kommando über die Aktion zu übernehmen. Kottowitz selbst zeigte sich am 10. Juni über das Schicksal der in Beijing eingeschlossenen Truppen äußerst besorgt: „Vielleicht sehen wir sie nicht mehr wieder.“257 Am 12. Juni schrieb Kottowitz über den Beginn der von Seymour geführten Expedition und über die laufend eintreffenden Verstärkungen der Mächte: Ich stehe im ständigen Verkehr mit den Admiralen und in telegraphischem Verkehr mit Wien. Unseren Commissär habe ich mit einem französischen Kreuzer nach Tschifu geschickt, um Lebensmittel zu kaufen und Kohle zu bestellen und hoffe, dass er heute mit unserer Post zurückkommt. 20 Mann habe ich bereit, um selbe im Nothfalle sofort ausschiffen zu können.258 Von Anfang Juni bis zum Eintreffen S.M.S. „Kaiserin und Königin Maria Theresia“ am 7. August war das Kommando S.M.S. „Zenta“ bestrebt, möglichst viele Nachrichten über die Entwicklung der Lage im Norden Chinas zu sammeln.259 Dabei war Kottowitz in erster Linie auf ausländische Quellen angewiesen - eine Ausnahme stellten die (schriftlichen) Mitteilungen des in Zhifu/Yantai tätigen österreichischen Weinbaufachmanns Maximilian Freiherm von Babo dar. Babo teilte dem Kommando S.M.S. „Zenta“ Ende Juni aus Zhifu/Yantai mit, dass die Lage an der Nordküste der Provinz Shandong ruhig war. Trotzdem hatten die wohlhabenderen Chinesen die Stadt - „welche sich immer mehr mit Gesindel füllt“ — bereits verlassen; auch die chinesischen Behörden hätten die Kassen bereits in das 255 256 257 258 259 Ebenda, Brief vom 7.6.1900. Ebenda, Brief vom 8.6.1900. Grazer Montags-Zeitung, Nr. 31 vom 30.7.1900, S. 2, Brief vom 10.6.1900. Ebenda, Brief vom 12.6.1900. Zu den Ereignissen auf der Reede von Dagu im Juni und Juli 1900 vgl. auch Admiralstab, Wirren in China, Kapitel IX sowie die ebenda als Anhang abgedruckten Sitzungsprotokolle. 92

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