Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)

Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel Österreichischer Berichte aus China

gewann im Laufe dieser Unterredung den Eindruck, dass Li „die Boxerbewegung und deren Folgen“ scharf verurteilte, dass er aber nach wie vor an der Aufrechterhaltung der bisherigen, zerrütteten Staatsverwaltung China’s hänge und grosse Befürchtungen hege, dass eine energische Action der fremden Mächte hierin eine wirksame Änderung hervorrufen könnte. Dieser Umstand erklärt es, dass er die Bedeutung und die Macht der Boxer und deren Anhanges möglichst zu verringern trachtet und von seinen, jedenfalls ausgezeichneten Informationen nur dasjenige mittheilt, was ihm für seinen Zweck geeignet erscheint.”1 Anfang Juli hatte Post auch die portugiesische Kolonie Macau besucht und Informationen über die dort getroffenen Maßnahmen für den Fall des Ausbruches von Unruhen unter der chinesischen Bevölkerung eingeholt. Die dortige Kolonialverwaltung befürchtete, dass der in Nordchina herrschende Fremdenhass auch die in Macau ansässige chinesische Bevölkerung (ca. 75 000 Personen) zu Feindseligkeiten gegen die rund 4 000 Angehörigen anderer Nationen aufstacheln könnte. Die ungenügende Verteidigungsfähigkeit Macaus führte Post auf die allzugroße Sparsamkeit der Regierungsbehörden zurück. Um das unbefugte Eindringen krimineller Chinesen zu unterbinden hatten diese angeordnet, dass zwischen 7 Uhr abends und 6 Uhr früh kein Chinese das portugiesische Gebiet zu Wasser oder zu Lande betreten oder verlassen dürfe. Die tagsüber ankommenden Chinesen wurden von den Portugiesen einer strengen Kontrolle unterzogen.* 372 Li Hongzhang reiste am 18. Juli „wider allem Erwarten“ nach Norden ab.373 Den Ausschlag für die Abreise dürfte letzten Endes ein kaiserliches Edikt vom 8. Juli gegeben haben, durch das er zum Generalgouvemeur der Provinz Zhili ernannt wurde - eine Funktion die er bereits zwischen 1870 und 1895 ausgeübt hatte. Am 15. Juli hatte er diese Ernennung den in Guangzhou residierenden Konsuln mitgeteilt und versichert, dass er alle Vorkehrungen getroffen habe, die auch nach seiner Abreise den Ausbruch von Unruhen verhindern würden. Er gab außerdem bekannt, dass er im Norden wieder Ruhe und Ordnung hersteilen wolle und durch das Edikt Vollmacht zu Verhandlungen mit den auswärtigen Mächten erhalten hätte. Ehe er nach Norden abreiste, wurde Li Hongzhang von Sir Henry Arthur Blake, dem Gouverneur von Hongkong, zu einer mehr als zweistündigen Unterredung empfangen. In Südchina, wo sich „namhafte Beunruhigung“ breit machte, zweifelte man, dass es Li Hongzhang überhaupt gelingen würde, durch die Kampfgebiete nach Beijing zu gelangen. Man fürchtete den Fanatismus der die Bewegung tragenden Kräfte und bezweifelte die Durchsetzungskraft des greisen Staatsmannes, der infolge seiner Parteinahme für die Aufrechterhaltung der bisherigen Staatsordnung China’s nur ein Hemmschuh für die Vertragsmächte sein wird, die notwendigen Reformen in China einzuführen. Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel österreichischer Berichte aus China HHStA, P.A. XXIX/18, Post an Gotuchowski, Bericht No. 14/Polit. Geg., Hongkong, 14.7.1900. 372 Ebenda, Bericht No. 16/Polit. Geg., Hongkong, 18.7.1900. Zu den in Macau getroffenen Maßnahmen vgl. auch Chan (1979), S. 113 f. 373 HHStA, P.A. XX1X/14, Post an MdÄ, Telegramm No. 4271, Hongkong, 18.7.1900. 121

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