Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Von der alten zur neuen Ordnung - Hanns Haas: Das Ende der Habsburgermonarchie

Hanns Haas die Landeshauptstädte vorwiegend den nichtdeutschen Nationen gehörten und einige Mittelstädte zu Pflanzstätten deutschnationaler Gesinnung wurden. Organi­satorische Träger des Nationalismus waren die vielen lokalen Kulturvereine, die Zeitungen und die wenigen politischen Vereine sowie die autonomen Gemeinden mit ihren Resolutionen und Problemationen. Die Mittelstädte Eger/Cheb, Reichen- berg/Liberec, Salzburg, Graz und Klagenfurt/Celovec verbündeten sich auf diese Weise zur politischen Handlungsgemeinschaft. Der Deutschnationalismus läßt sich daher auch als ein Auflehnen der „deutschen Provinz“ gegen die habsburgische, schwarzgelbe Metropole Wien deuten, während die nationale Choreographie der Tschechen die altehrwürdigen Traditionsstätten neu definierte. So wurde 1911 auf dem Prager Altstädter Ring in unmittelbarer Nachbarschaft zur Mariensäule, die den Sieg des habsburgischen Katholizismus über den rebellierenden böhmischen Adel im Jahre 1620 symbolisierte, dem tschechischen Reformator Jan Hus ein riesiges Denkmal gesetzt.27 Bis in seine nächtlichen Träume verfolgte den Prager Dichter Franz Kafka diese revolutionäre Besitznahme des ihm seit Jugendtagen vertrauten Platzes.28 Der politisch spektakulärste Fall einer solchen Besitznahme spielte sich 1895 in einer kleinen deutschen Stadt in der slowenischen Südsteier­mark ab. Weil die Regierung im deutschen Gymnasium dieser Stadt Cilli/Celje eine slowenische Parallelklasse einrichtete, wurde sie von den Deutschnationalen ge­stürzt. Bei solchen Gelegenheiten ereigneten sich sodann im Wiener Parlament jene unwürdigen Szenen der Obstruktion, welche einem europäischen Publikum als weiterer Beweis einer überlebten Ordnung galten. Tatsächlich schien der Staat einer demokratischen Erneuerung kaum fähig. Es war der Nationalismus, der im Einklang mit der Demokratie stand. Die Nations- werdung zergliederte daher das Staatsvolk in konkurrierende nationale Gruppen, die zwar nicht gegen den Staat, sondern „um den Staat“ kämpften, wie Karl Renner klassisch formulierte.29 Während der Nationalismus sonst den Staat durch das ge­einte Volk legitimierte, degradierte er ihn im Habsburgerstaat zum Kampfobjekt oft kleinlicher Demonstrationen und Kämpfe. Jede Demokratisierung des Wahlrechtes intensivierte die lähmenden nationalen Schaukämpfe, und das gilt für Österreich in gleicher Weise wie das sonst vielfach eigengesichtige Königreich Ungam. Alle Bewegungen gerieten in diesen nationalen Bekenntniszwang, die alten bürgerlichen Honoratiorenparteien ebenso wie die weltanschaulichen Gruppierungen der Christ­lichsozialen und zuletzt auch die Sozialdemokraten, auf die der Kaiser so große Hoffnung setzte und sogar dem allgemeinen, gleichen, direkten, und geheimen 27 H oj da, Zdenêk - Po körn ÿ , Jin: Denkmalkonflikte zwischen Tschechen und Deutschböhmen. In: Bürgerliche Selbstdarstellung. Städtebau, Architektur, Denkmäler, hrsg. von Hanns Haas, Han­nes Stekl. Wien-Köln-Weimar 1995, S. 241-251. 28 Kafka, Franz: Tagebücher 1910-1923, hrsg. von Max Brod. Frankfurt am Main 1967; Eintra­gung vom 9. November 1911, S. 109-111. 29 Renner, Karl: Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat. Wien 1902. 26

Next

/
Thumbnails
Contents