Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Vorwort / Einleitung

Finleitung einem ethnischen Tschechen: „Er lebt unter seinem Volk, ist fröhlich und gesund, mit Recht mit sich zufrieden, mit seinem großen Kreis zufrieden, mit Recht (es ist nichts anders auszudrücken, so wie eben ein Baum auch mit Recht in seinem Bo­den steht.“ Hier ist die Rede von einer Sicherheit, welche die Juden in diesem Mit­teleuropa nie erreichten.2 Ihre galizische Lebenswelt war vom Weltkrieg, vom ukrainisch-polnischen Krieg und von den begleitenden Pogromen, in letzter Hin­sicht aber durch eine schreckliche Armut gezeichnet. Im tschechoslowakischen und zuletzt auch (deutsch)österreichischen Umfeld versuchte die jüdische Identitätssu­che an die verlorene habsburgische Erfahrung anzuknüpfen. Tatsächlich bot die gleichfalls vielnationale Tschechoslowakei mit ihrem toleranten Übervater Mas- aryk eine gute Möglichkeit, die Dreifachidentität von Staatsloyalität, kultureller Bindung ans Deutsche respektive Tschechische und jüdischem Selbstbewußtsein (kollektiv)biographisch zu verbinden. (Wie facettenreich die Mischung war, zeigt der Prager Dichterkreis im Nebeneinander vom zionistischen Aktivisten Max Brod und Franz Kafka, der sein Judentum zwar kulturell, aber nicht politisch artikulierte, und im übrigen als „Halbdeutscher“3 die enge Verbindung mit der Tschechin Mi­lena einging.) Schwieriger war diese Integration ins nun „deutsche“ Österreich, da eine Verschmelzung mit dem deutschen Ethnischen nicht möglich war. Doch zu­letzt blieb auch hier nichts weiter als die Hoffnung auf Anerkennung als staats­loyale, kulturell deutsche Juden unter Deutschen. In beiden Fällen intensivierte jedoch die Identitätskrise das jüdische Bewußtsein. Der Beitrag Embacher schließlich zeigt, daß die affirmative Bindung vieler Juden an das habsburgische Österreich nicht nur die Zwischenkriegszeit überdauerte, sondern bis in die Nachkriegszeit nach 1945 reichte. Nach all dem Schrecken der nationalsozialistischen Verfolgung und dem massenhaften Exodus der Überleben­den aus Osteuropa blieb in einer „konservativen“ Variante nur noch die verklärte Erinnerung an das goldene Zeitalter unter der milden habsburgischen Staatsgewalt beziehungsweise in einer „fortschrittlichen“ Variante an das sozialdemokratische Experiment einer Überwindung rassischer Vorurteile durch die Sozialpolitik im damals Roten Wien. Aus diesen zwei Quellen speiste sich die Loyalität der weni­gen tausend nach Österreich zurückgekehrten Juden zum wieder errichteten demo­kratischen Österreich. Nicht einmal die bittere Realität eines fortlebenden österrei­chischen Antisemitismus - beinahe „ohne Juden“ - konnte durch Jahrzehnte diese auch in der israelischen und amerikanischen Fremde treu gehütete österreichische Nostalgie desavouieren, bis zuletzt die Waldheimaffäre diesem „Leben mit Illusio­nen“ erneut die ganze Schwierigkeit jüdischer Existenz in einem Staat mit vehe­ment antijüdischer Gesinnung demonstrierte. 2 Kafka, Franz: Briefe an Ottla und die Familie, hrsg. von Hartmut Binder, Klaus Wagenbach, hier Brief aus Meran an Ottla, ca 1. Mai 1920, S. 82. Frankfurt/Main 1974. 3 Ebenda, Brief an Ottla, Liboch, 20. November 1919, S. 67. 9

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