Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)
Vorwort / Einleitung
Finleitung oder aufgrund von geschichtlicher Überlieferung Vereinigung der Nationen auf eine neue legitimatorische Basis zu stellen. Der Zerfall der Großstaaten löste nicht die ethnisch-nationalen Probleme, sondern verschob sie lediglich in den nationalstaatlichen Rahmen und machte sie gleichzeitig zu zwischenstaatlichen beziehungsweise internationalen Anliegen. Wieder ergeben sich in den Beiträgen von Arnold Suppan und Hermann Bieder auffallende Parallelen zwischen der Habsburgermonarchie und dem Sowjetimperium, respektive den ihrem Zerfall folgenden Fragen. So ging es in beiden Fällen um die Position der ehemals dominanten Nation, also von Deutschen, Ungarn und Russen in den Sukzessionsstaaten der anderen „Titulamationen“. Einerseits beobachten wir hier wie dort den Rückzug von Angehörigen der bisher „herrschenden“ Nationen. Immer sind es Staatsfunktionäre und Angehörige der gesellschaftlichen Einrichtungen und wirtschaftliche Eliten, welche in großer Zahl vor allem aus peripheren Ländern und zumeist unter erheblichem gesellschaftlich-politischen Druck in ihr „Mutterland“ abwandem. Sodann sind die rechtlichen Fragen von Staatsbürgerschaft und Besitz festzulegen. Aus den altösterreichischen Nachfolgefragen kennt man die langwierigen Diskussionen um die Staatsbürgerschaft der nach Wien geflüchteten Juden, aber auch der Deutschen in den südslawischen Ländern und der nach Kärnten vor 1918 zugewanderten slowenischen Intelligenzschichte. Die Rahmenbedingung bildete hier bekanntlich die im Vertrag von Saint Germain definierte Heimatzuständigkeit. Als spektakuläres aktuelles Beispiel ist die unter dem Druck der Europäischen Union in einer Volksabstimmung beschlossene Einbürgerung der Russen in die Republik Lettland zu nennen. Eine klassische Nachfolgefrage betrifft den Statuts von Minderheiten in den Nationalstaaten. Die habsburgischen Nachfolgestaaten mit Ausnahme Italiens wurden bekanntlich völkerrechtlich verbindlich zu Minderheitenschutz verpflichtet. Tatsächlich konnten sich die Minderheiten, respektive Volksgruppen nur dort durchsetzen, wo sie in großer Zahl siedelten. Insgesamt zeigte sich, daß die Dismembra- tion der multinationalen Großstaaten erst recht wieder eine Unzahl von Minderheitenproblemen entstehen ließ. Dabei kam nun vor allem der Rechtsschutz für die ehemals dominierenden Nationen in Betracht. Die Brisanz dieser aktuellen Frage zeigt der schlichte Befund, daß in den nichtrussischen souveränen Nachfolgestaaten der Sowjetunion 25 Millionen Russen, das sind beinahe 20 Prozent ihrer Bevölkerung leben, in der Russischen Föderation hingegen sogar 27 Millionen Nichtrussen, gleichfalls beinahe ein Fünftel der Gesamtbevölkerung leben - eine eigentümliche Pattstellung, die eine Lösung des Minderheitenproblems durch Reziprozität erhoffen läßt. Schließlich geht es auch um die faktische Präsenz und das Gewicht der ehedem herrschenden Sprachen in der neuen nationalstaatlichen Vielfalt, also um die weitere Verbindlichkeit der bisher dominanten Sprachen festzulegen. Dabei zeigt sich eine weitere Geltung des Deutschen über den Zerfall der Monarchie hinaus bis 1938, teils wieder nach 1989, und noch deutlicher des Russischen 7