Sonderband 3. „wir aber aus unsern vorhero sehr erschöpfften camergeföllen nicht hernemben khönnen…” – Beiträge zur österreichischen Wirtschafts- und Finanzgeschichte vom 17. bis zum 20. Jahrhundert (1997)
Gertrude Enderle-Burcel: Zwischen Kontinuität und Wandel: Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg
ZWISCHEN KONTINUITÄT UND WANDEL Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg von Gertrude Enderle-Burcel Die österreichisch-ungarische Monarchie war bis zur ihrem Ende ein ungenügend entwickelter Agrarstaat mit regional sehr ungleicher Entwicklung. Als ein weitgehend autarkes Wirtschaftsgebilde, „das nach innen in mannigfacher Weise verflochten, mit der Außenwelt jedoch nur durch ziemlich lockere Fäden verknüpft war“1, hatte es vor dem Ersten Weltkrieg neben Rußland die geringste Außenhandelsverflechtung unter allen europäischen Ländern2. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die zum großen Teil auf dem Gebiet der Monarchie neu entstandenen Staaten Mittelund Osteuropas enger als vor 1914 in die Weltwirtschaft und in den Konkurrenzkampf der großen Industriestaaten einbezogen3. Für die Nachfolgestaaten der österreichisch-ungarischen Monarchie bedeutete dies einen enormen rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Umstellungsprozeß. Die Teile eines weitgehend autonomen Wirtschaftsgebietes wurden zu „höchst außenhandelsabhängigen Staatsgebilden“4. Österreich und die Tschechoslowakei nahmen dabei eine Sonderstellung ein, da beide Staaten beim ungleichen industriellen Erbe, das den Nachfolgestaaten aus dem West-Ostgefalle ihres Wirtschaftswachstums hinterlassen worden war, am besten abschnitten5. Böhmen, Mähren und Schlesien sowie das Wiener Becken und die Steiermark waren die klassischen Industriegebiete der Monarchie gewesen. Der Anteil der beiden Staaten an den Fabriken Altösterreichs war mit 51 Prozent im Falle der Tschechoslowakei und 32 Prozent im Falle Österreichs um rund die Hälfte größer als ihr Anteil an der Bevölkerung6. In den beiden Ländern wurden auch die größten Anteile des Volkseinkommens produziert - 45 Prozent in der Tschechoslo1 Rothschild, Kurt W.: Wurzeln und Triebkräfte der Entwicklung. In: Österreichs Wirtschaftsstruktur gestem-heute-morgen, hrsg. von Wilhelm Weber. Bd. 1. 2. Berlin 1961, Bd. 1, S. 1-157, hier S. 52, S. 63. 2 Weber, Fritz: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Ersten und Zweiten Republik. In: Österreichs Erste und Zweite Republik. Kontinuität und Wandel ihrer Strukturen und Probleme, hrsg. von Erich Zöllner. Wien 1985, S. 121-152, hier S. 125. 3 Teichova, Alice: Die Wirtschaftspolitik der kleinen Nationen in Mittel- und Osteuropa. Sachzwänge und Handlungsspielräume in der Zwischenkriegszeit. In: Sachzwänge und Handlungsspielräume in der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Zwischenkriegszeit, hrsg. von Wolfram Fischer. St. Katharinen 1985, S. 116-141, S. 116. 4 Rothschild: Wurzeln, S. 65. 5 Teichova : Sachzwänge, S. 120. Zur Verteilung der wichtigsten wirtschaftlichen Ressourcen auf die Gebietsnachfolger der österreichischungarischen Monarchie und das günstige Abschneiden Österreichs und der Tschechoslowakei vgl. Rothschild: Wurzeln, S. 53 f Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Sonderband 3/1997 175