Katholischen Gymnasium, Schemnitz, 1854
5 2. An diesem Leitfaden ist die weitere Entwicklung aller Geisteskräfte vor* zunehmen und durchzuführen. Eines der allgemeinsten und vortrefflichsten Mittel zur Entwicklung und Bildung des Geistes ist das Studium der altklassischen Sprachen. Das Bildende jedoch bei diesen Sprachen ist außer dem reichbaltigen und vielseitigen Inhalte vorzüglich in der grammatischen Behandlung enthalten, indem sie die Gesetze der Sprache, welche ebenso die Denkgcsetze sind, gründlich entwickelt. Denn diese Sprachen haben eine nach festen Grundsätzen ausgebildete Grammatik, gegründet in der eigenen Einrichtung des Geistes selbst; die Anwendung aber dieser Grundsätze bietet hinlänglichen Stoff alle Geistesanlagen und ihre Thatigkeit hervorzurufen, welche anzuregen der Zweck des Unterrichtes ist. Die erste geistige Übung besteht in den Abwandlungen der verschiedenen Formen und Flexionen nach festgesetzten Regeln, die im systematischen Zusammenhänge durch unzählige Beispiele versinnlicht, dem Verstände zugefübrt, und die richtige Auffassung derselben durch Erläuterung, Wiederholung, schriftliche und mündliche Berichtigung dem Gedächtniße allseitig und genau eingeprägt werden, llnd da mir diesen vielfältigen Flexionen auch verschiedene Bcgriffsbeziehungen verwebt und verbunden sind, werden durch die bestimmten Abwandlungen der Formen auch die inneren Gedankenbeziehungen sinnlich ausgeprägt und durch die zugleich gelernten Vokabeln gleichsam verkörpert, und auf diese Weise erweitert sich durch den Formenreichthum auch der Jdeenkreis des Schülers. Ist die Formenlehre durch vielfache Übungen an einer gewandten Hand ein wirkliches und lebendiges Eigenthum des Schülers geworden, wird derselbe zur Satzlehre geführt, wo die Beziehungen der Satztheile erwogen, und einzelne Begriffe dnrch dieselben zu einem Gedanken verbunden werden. Sobald der Schüler zur Erläuterung einer bestimmten syntaktischen Regel Beispiele in der Muttersprache passend anzuführen weiß, erkennt er in den einzelnen angeführten Beispielen die allgemeine Regel, und indem er jene in die alten Sprachen übersetzt, muß er das Allgemeine auf das Einzelne anwenden, und somit findet bei dieser Übung ein beständiges Subsumiren des Besonder« unter das Allgemeine und umgekehrt statt, wodurch seine Urtheilskraft ungemein angeregt und entwickelt wird. Die Urtheilskraft des Schülers wird noch mehr dadurch geschärft und gestärkt, daß mit zunehmendem Fortgange bei verwickelten Beispielen seine Verstandesthätigkeit von verschiedenartigen Regeln mehrseitig in Anspruch genommen wird. In diesem Falle wird also der Schüler zum Combiniren genothigt, und in welchem Verhältnisse der Umfang der Regeln zunimmt, in demselben wird auch bei der Anwendung sein Unheil combinirter, wie dieß vorzüglich beim Analysiren und Übersetzen der Chrestomathien oder leichterer Schriftsteller, deren Inhalt und Sprache dem jugendlichen Alter angemessen ist, stattfindet. Bei der Übung des Übersetzens muß der Zögling die einzelnen Sätze auflösen, sie auseinanderlegen, die Stellung kennen lernen, welche jedes Wort einnimmt, und seine Bedeutungen nach verschiedenen Endungen erforschen; darf keinen Buchstaben, keinen Punkt und keinen Accent übersehen, indem die kleinste Veränderung am Worte dem Begriffe desselben eine ganz andere Beziehung gibt; er muß die Gesetze zwei verschiedener Sprachen miteinander verglei