Karl Alfred von Zittel: Handbuch der Palaeontologie. 1. Abtheilung, Paleozoologie. IV. Band: Vertebrata (Mammalia) (München und Leipzig, 1891-1893)

5. Classe. Mammalia. Säugethiere - Schultergürtel, Beckengürtel und Extremitäten

38 V ertebrata. oder Schwimmen dienen, so entspricht jeder dieser Funktionen eine be­sondere Einrichtung, die unter Umständen in ähnlicher Weise bei Thieren von sehr verschiedener Organisation, wiederkehrt. Es setzt diese Thatsache eine gewisse Plasticität des ganzen Organismus und damit auch des Knochengerüstes voraus, welche sich häufig sehr deutlich in den verschiedenaltrigen Vertretern einer bestimmten Gruppe in Gestalt phylogenetischer Durchgangsstadien kund gibt. Das Studium der Veränderungen im Säugethierskelett während der phyletischen Entwicklung , die sogenannte »Kinetogenese« , ist in neuester Zeit vorzüglich durch Cope und Osborn gefördert und im Sinne der Lamarck's Anschauungen ausgebaut worden. Gebrauch und Nichtgebrauch, reichliche Ernährung oder Mangel bedingen die kräftige Ausbildung, Grösse und Form eines Organs. Bei den Skelet­knochen spielen Druck und Zug (impact and strains) und drehende Bewegung in den Gelenken die wichtigste Rolle bei der Formgestaltung. Gleiche mechanische Einwirkungen rufen ähnliche Erscheinungen her­vor, desshalb sind durch Gebrauch, Nichtgebrauch oder äussere Ein­flüsse hervorgerufene analoge Bildungen sorgfältig zu unterscheiden von den durch Vererbung erworbenen und darum systematisch wichtigeren Merkmalen. Jede Abänderung und Weiterentwickelung ist aber nicht nur ab­hängig von den Reizen und Impulsen, welche auf ein bestimmtes Organ einwirken, sondern auch von dem Material, aus dem es auf­gebaut ist und darum wird in verschiedenen Classen oder Ordnungen der Wirbelthiere gleicher Gebrauch keine identische, wohl aber eine ähnliche Wirkung hervorrufen. Die Kinetogenese hat insbesondere für Schädel , Extremitäten und Gebiss werthvolle Anhaltspunkte für die Beurtheilung ursprüng­licher oder weiter entwickelter Zustände geboten ; sie ist eine Fort­bildung des Cuvi er'sehen Gesetzes der Correlation und gewährt in vielen Fällen die Möglichkeit einer aprioristischen Construktion einer noch unbekannten Form oder doch der möglichst wahrschein­lichen Ergänzung irgend eines unvollständig erhaltenen fossilen Wirbel­thieres. Obwohl die Ausbildung des Knochengerüstes wesentlich beeinflusst wird von der Muskulatur, so besitzt die Anatomie der Weichtheile (Ernährungs­, Athmungs-, Circulations-, Fortpflanzungs - Organe und Nervensystem) nur ein indirektes Interesse für den Paläontologen, da lediglich das Skelet, die Zähne und knöchernen Hautgebilde dem Fossilisationsprozess widerstehen. Neben dem eigentlichen Knochengerüst hat bei den Säugethieren

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