Das Österreichische Staatsarchiv (1988)
Gedanken zur Planung
dann muß an Stelle imperialer Gestaltungsform die Schlichtheit zum Ausdruck zeitgenössischer Repräsentanz werden. Dieses Denken begann richtigerweise schon bei der Standortwahl für den Bau. In der Vergangenheit hatten alle Teilarchive des Staatsarchivs standesgemäß etwa unter dem Dach des Ballhauses und im Palais Erdödy, beide im Regierungsviertel, im Finanz- und Hofkammerarchiv in der Innenstadt im und beim einstigen Winterpalais des Prinzen Eugen von Savoyen, oder auch in der Stiftskaserne. Bis zur Geburt der Ersten Republik Österreich war das Haus Habsburg Hausherr und Nutzer dieser Archive, und deren Inhalt bewies und bezeugte in vielen Bereichen den Machtanspruch dieses Herrscherhauses über Österreich und die Kronländer. Diese Bedeutung kommt auch an den Fassaden der alten Archivbauten mit ihren barocken, klassizistischen und historisierenden Stilelementen zum Ausdruck. Im Sinne des gewandelten staatlichen Repräsentationsdenkens wurde der neue Standort an die Peripherie von Wien verlegt, in ein gewerblich-industriell gemischtes Baugebiet neben der Autobahn der Südosttangente im urbanen Niemandsland. Die neben dem Archivneubau liegende zukünftige U-Bahn-Station verspricht Kommunikation; sie ist Nabelschnur zu den Nutzern des Archivs, die Universitäten und Ämter der öffentlichen Verwaltung der Innenstadt. Dem gewandelten Denken in der Standortwahl mußte auch ein solches in der Gestaltung entsprechen. Die ein Leitbild dafür suchenden Architekten verzeichneten mit Genugtuung, daß dem Kaiser der Aufklärung, Josef II., in der republikanischen Welt ein in der Baugesinnung ähnlich Denkender folgte, nämlich Hugo Breitner, der zum ständigen Mahner vor Luxus und falschem Pathos wurde und dem die Stadt Wien den sozialen Wohnbau der Zwischenkriegszeit verdankte. Das gestalterische Darstellen im Bewußtbarmachen der Bedeutung des Bauwerks für die Bürger, jedoch in gebotener, dienender Bescheidenheit, wurde so zum Leitmotiv der baukünstlerischen Ausformung. Die rhythmisch gegliederte Baumasse des Staatsarchivs, die breit gelagert den Ostteil der großen Neuverbauung bildet, die auch noch andere Bauten der Republik für das Finanzministerium umfaßt, zeigt ein Verwaltungsgebäude besonderer Art. Die Zone der Archivare bestimmt mit ihren Fensterfronten die Architektur. Die im leuchtenden Weiß umlaufende horizontale Stockwerksgliederung mit ihren zart strukturierten vertikalen Lisenen und die mächtigen vier Stiegentürme geben dem Bauwerk Maßstab und Charakteristik. Vom Gesims an weichen die schrägen Dachflächen zurück und nehmen so der Baumasse nach oben zu das Gewicht. Der Speicher ruht als behütetes Schatzhaus im Inneren des Bauwerks. Bescheidenheit muß jedoch nicht Kunstlosigkeit bedeuten. Der Architektur als Ausdrucksmittel der gestaltenden Gesinnung wurde die bildende Kunst in der Zone der Öffentlichkeit zur Seite gestellt: Der Bildhauer, Univ.-Prof. Rudolf Kedl, schuf das Bronzetor des Eingangs, eine Skulptur in der Empfangshalle und in differenzierter Durchbildung Türbeschläge zum Tempelbezirk des Speichers. So wurde dem neuen österreichischen Staatsarchiv für die Welt der Archivalien, die in der Vergangenheit ruht, eine neue Wohnstatt für Gegenwart und Zukunft in einem Haus gegeben, das Organisation, Funktionalität und hochentwickelte Technik baukünstlerisch vereinigt. Technische Baudaten Planung und örtliche Bauaufsicht: Architekten Requat & Reinthaller und Partner, 1010 Wien, Kramergasse 9. 20