1100 Jahre österreichische und europäische Geschichte in Urkunden und Dokumenten des Haus-, Hof- und Staatsarchivs (1949)

1100 Jahre österreichische und Europäische Geschichte - Einleitung

das Archiv stets eine hervorragend praktische Bedeutung für das gesamte Rechts-, Verwaltungs- und Wirtschaftsleben und damit für das menschliche Dasein im Ganzen. Aber auch dann, wenn einzelne Urkunden oder ganze Archivkörper infolge des Unterganges oder der Auflösung von Staaten, wegen politischer und sozialer Umwälzungen, durch Schaffung neuer Rechtsordnungen und auf Grund von Verjährung usw. ihre unmittelbar rechtliche Bedeutung und ihre praktische Wirksamkeit verloren haben, bleibt den Archiven jederzeit ihr hoher idealer Wert als Sammel- und Aufbewahrungsstätten der ver­läßlichsten und exaktesten Geschichtsquellen, der Urkunden, erhalten. Die Archive bewahren das sichere, jahrhunderte- und jahrtausendealte Wissen von der menschlichen Vergangenheit, sie verkörpern unser geschichtliches Bewußtsein und sie bilden das dauernde Monument und das unumstößliche Denkmal der historischen Vergangenheit und des geschichtlichen Werdens einer jeden menschlichen Institution, sei sie nun Volk und Land, Kirche und Staat, Familie und rechtliche oder Einzelpersönlichkeit. Die Vernichtung der Archive würde mit einem Schlage das geschichtliche Bewußtsein des betreffenden Volkes und Staates auslöschen — die Menschheit würde in den Zustand der Geschichtslosigkeit versinken. Die Archive bilden daher, so wie die Urkunde selbst, die Grundlage aller Geschichtsforschung und der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung — sie sind der unendlich fruchtbringende Urquell und Jungbrunnen aller wahren und exakten historischen Wissenschaft. Die Archivarbeit und die dauernde Verbindung mit den archi- valischen Quellen bewahrt den Historiker vor unfruchtbarem Theoretisieren und vor wissenschaftlich wertlosen Konstruktionen. Ebenso wie die Urkunde ist auch die Bildung von Urkundenbeständen, also von Archiven, aus dem Orient in das Abendland gekommen und hier, allerdings teilweise sehr viel später, als die Urkunde selbst von Land zu Land übertragen worden. Schon in altrömischer Zeit gab es Archive des Senates und der Magistrate, später auch der Kaiser. Nach diesem Vorbilde haben dann die großen christlichen Kirchen, insbesondere die römische Kirche, für ihre Archive Sorge getragen. Ein päpstliches Archiv hat es wahr­scheinlich schon seit dem dritten Jahrhundert gegeben; allerdings haben sich aus der Zeit vor 1200 nur ganz geringe Bruchstücke erhalten. Erst seit Papst Innocenz III. (1198—1216) sind uns die Register­bände und sonstigen Archivbestandteile in nahezu geschlossener Reihe überliefert. Die weltlichen Herrscher haben lange Zeit hindurch auf ihre Archive nur geringe Sorgfalt verwendet. Unter den Karolin­gern ist wohl noch von einem Archiv die Rede, aber unter den Ottonen und Saliern verschwindet jede Spur von archivalischen Einrichtungen. Erst unter den Staufern hören wir wieder von einem Archiv, ohne freilich Näheres darüber zu erfahren. Die Normannen in Unteritalien und Sizilien besaßen Archive; die Staufer haben für ihr süditalienisches Reich die Führung von Archiven übernommen und auch deren Nachfolger, die Anjous, haben an diesem Brauch festgehalten. Die archivalischen Einrichtungen, welche die Staufer in Süditalien vorgefunden hatten, wurden von ihnen nicht nach Oberitalien und nach Deutschland übertragen. Wohl wissen wir, vornehmlich aus den vielfach von Beamten der Kanzlei zu praktischen und Lehrzwecken zusammengestellten Formular­büchern, daß die Manualakten der königlichen Kanzlei, d. h. der Vorrat von bei Hofe eingelaufenen Brief­schaften, Berichten usw. und von zurückbehaltenen Abschriften ausgegangener Briefe und Privilegien sich seit dem Ausgange der Staufer und dem Interregnum steigerte, daß also der Grundstock eines Archivs sich allmählich ansammelte. Der Begriff eines Reichsarchivs aber tritt uns erst zu Anfang des 15. Jahr­hunderts entgegen und von einer rechtlichen Regelung ist erst zu Ausgang des Jahrhunderts unter Maxi­milian I. die Rede. Die Bestände des heute erhaltenen Reichsarchivs gehen aber im allgemeinen nicht über Ruprecht von der Pfalz (1400—1410) zurück. Was sich an früheren Bestandteilen erhalten hat, ist im Hausarchiv des betreffenden Königs verblieben. Seit dem Ausgange des Mittelalters und in der Neuzeit haben sich vier Reichsarchive gebildet: 1. Das Archiv des Reichskammergerichtes zu Speyer, später zu Wetzlar; 2. die Archive der Reiclishofkanzlei und des Reichshofrates zu Wien; 3. das Mainzer Erzkanzler­archiv; 4. das Archiv des Reichstages zu Regensburg, welches in Verwahrung des Grafen von Pappenheim war und fast gänzlich vernichtet wurde. Die Könige von England besaßen bereits seit der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ein Archiv und vom Archiv der Könige von Frankreich hören wir zu Ende des 12. und in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. 1346 erfolgte die offizielle Organisation des Aragonesischen Kronarchivs zu Barcelona. Sehr weit zurück reichen vielfach die Archive der bischöflichen Kirchen, der Domkapitel und der Klöster, sowie der Landesfürsten und einzelner Städte. Von alten österreichischen Archiven dieser Art seien etwa genannt die Archive der Hochstifter Salzburg und Brixen, die Klosterarchive von Melk, von Klosterneuburg, von Lilienfeld und der Schotten, die Archive der Babenberger, der Habsburger und der Grafen von Tirol und das Archiv der Stadt Wien. ❖ * * Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien ist, wie schon der Name sagt, im wesentlichen das Archiv des österreichischen Herrscherhauses und des österreichischen Staates. Es besteht aber nicht aus einem einzigen Archivkörper, d. h. seine Bestände sind nicht aus dem schriftlichen Niederschlag einer XI

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