1100 Jahre österreichische und europäische Geschichte in Urkunden und Dokumenten des Haus-, Hof- und Staatsarchivs (1949)

1100 Jahre österreichische und Europäische Geschichte - Einleitung

Einleitungx) Urkunden sind in bestimmter Form abgefaßte Schriftstücke rechtlichen Inhaltes, welche den Zweck haben, entweder Rechtsgeschäfte zu vollziehen (Geschäftsurkunde) oder als Zeugnisse über bereits vollzogene Rechtsgeschäfte zu dienen (Beweisurkunde). Zu den Urkunden rechnen wir aber nicht nur die zunächst für sich allein bestehende Einzelurkunde, also die Urkunde im engeren und eigentlichen Sinne, sondern weiterhin auch alle jene Schriftstücke, die mit der Entstehung der Urkunde, mit deren Vorstufen und mit deren Auswirkungen im Zusammenhang stehen, so die Konzepte, die Mandate, die Briefe, die große Masse der Akten und die urkundlichen bzw. amtlichen Bücher, wie Kanzleiregister, Urbare, Lehnbücher, Stadtbücher, Traditionsbücher, Notariatsbücher, Protokollbücher, Kirchenbücher usw. Die Urkunde ist im ganzen Abendlande verbreitet ; sie ist aber hier nicht bodenständig erwachsen, sondern vom Orient her in Europa eingeführt und seither von Volk zu Volk übertragen worden. Ursprüng­lich und lange Zeit hindurch sind sowohl bei den Griechen und Römern wie auch bei den Germanen und Slaven Rechtsgeschäfte durch rechtsförmliche Verbalakte oder durch symbolische Realakte oder durch eine Verbindung beider und ohne die Hilfe von Urkunden vollzogen worden. Erst durch den Geschäfts­verkehr mit fremden Völkern, die für ihre Rechtshandlungen bereits die Urkunde verwendeten, wurde sie übernommen. So haben die Griechen die Urkunde von den orientalischen Völkern erhalten und haben sie ihrerseits an die Römer weitergegeben; von den Römern kam die Urkunde zu den Germanen und von diesen zu den Westslaven. Die Römer kannten die Urkunde bereits im 5.—4. Jahrhundert vor Christus. Die christliche Kirche und das Papsttum haben schon in ihren ersten Anfängen das Urkundenw’esen übernommen und haben dasselbe geradlinig ohne Unterbrechung und ohne Zwischenstufe in das Mittelalter und in die Neuzeit weitergeführt und sind in der Folge für die verschiedenen Staaten und Völker des Abendlandes vorbildlich geworden. In den romanischen Ländern hat sich das Urkundenwesen wohl mit einigen Modifikationen und zeitweise etwas reduziert auch durch das ganze Mittelalter erhalten. Das deutsche Königtum hat sich in Fortführung des fränkischen Brauches jederzeit der Urkunde bedient, im übrigen aber wurde in Deutsch­land die Urkunde seit der späteren Karolingerzeit durch die germanischen Rechtseinrichtungen der symbolischen bzw\ der A'erbalakte zurückgedrängt und ist nach einer Zeit des Verfalles im 10. und 11. Jahr­hundert erst wieder seit dem 12. Jahrhundert, vornehmlich unter dem Einflüsse der stets lebendig geblie­benen Königs- und Papsturkunde zu neuem Leben erwacht. Seit den letzten Jahrhunderten des Mittelalters und in der Neuzeit, im Zusammenhang der abendländischen Kulturwende, der allmählichen Bildung des modernen Staates und der neuzeitlichen Gesellschaft, nimmt das Urkundenwesen und vor allem das aus ihm erwachsene Aktenwesen immer größeren Umfang an. Es entstehen neben der alten päpstlichen Kanzlei und neben den Kanzleien der abendländischen Könige immer mehr kirchliche, staatliche, landes­fürstliche, städtische und kaufmännische Beurkundungsstellen und Kanzleien und die Führung urkundlicher Bücher und Protokolle wird immer allgemeiner: Waren es in der älteren Zeit vornehmlich Verleihungen von Rechten, Schenkungen und Bestätigungen, seltener Gerichtsurteile, wrelche in den Urkunden ihren schrift­lichen Niederschlag gefunden haben, so werden seither in immer steigendem Maße alle Äußerungen und Erscheinungen des staatlichen, kirchlichen, geschäftlichen und schließlich selbst des privaten Lebens von der Urkunde erfaßt. Es entstehen neben den Urkunden im engeren Sinne die unübersehbaren Massen der diplomatischen, Gerichts-, Verwraltungs-, militärischen, ständischen, parlamentarischen und kauf­männischen Akten, und es gibt schließlich, so wie wir es heute bereits mehr oder minder gewmhnt sind, kaum mehr eine Handlung des Alltages, die nicht irgendwie urkundlich verankert w^äre oder in urkundlichen Formen niedergelegt würde. So steht die Urkunde mitten im Leben und ist für alle irgendwie mit Rechtsgeschäften zusammen­hängenden Handlungen des öffentlichen und privaten Lebens unentbehrlich geworden. 1) Vgl. zum folgenden: Harry Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien 1, Leipzig 1912; Hans Kaiser, Die Archive des alten Reiches bis 1806 (Archivalische Zeitschrift 35, 1925, S. 204—220); Eugenio Casanova, Archivistica. 2a Edizione. Siena 1928; L. Bittner, Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs. 5 Bde., Wien 1936—1940; Leo Santi fallet', Urkundenforschung. Weimar 1937; Leo Santi fuller, Die Bedeutung der Urkunde als Geschichts­quelle und die historische Entwicklung der Urkundenforschung 1943. IX

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