Anton Millner: "Die Gefangenenseelsorge" - Studia Theologica Budapestinensia 1. (1990)
IV. Kapitel. Der Adressat der Arbeit des Seelsorgers im Gefängnis - die Persönlichkeit des straffällig gewordenen Menschen
dann aber nur mangelhaft fähig, die soziale Realität so zu erleben wie diese tatsächlich ist. Vielmehr erleben sie oft ein Zerrbild der Wirklichkeit, das mit vielen unbewussten Projektionen eigener, innerer Probleme durchmischt ist.1 Dies kann zur Schlussfolgerung führen, dass solche Heime bestehende Sozialisationsschäden nicht nur nicht beheben können, sondern dass durch den Aufenthalt die Wahrscheinlichkeit der Straffälligkeit sogar erhöht wird.1 2 3 Konsequenterweise hat das Österreichische Bundesministerium für Justiz die Bundesanstalt für Erziehungsbedürftige in Wien - Kaiserebersdorf am 30. 6.1975 ersatzlos aufgelöst. Ehemalige Heimkinder passen sich später im Gefängnis verhältnismässig rasch und auch leicht der Anstaltordnung an. Sie sind meist höflicher und gefügiger als die anderen Häftlinge und werden deshalb vom Anstaltspersonal bevorzugt behandelt (Vorarbeiter, Hausarbeiter, Schreiber). Gerade diese Gefangenen versagen besonders häufig in der Freiheit und werden rückfällig.'’ Ihre widerstandlose Anpassungstechnik (Scheinführung), die sich im Gefängnis als so vorteilhaft erweist, ist pädagogisch äusserst bedenklich, da in der Freiheit andere Bedingungen herrschen. Mit dieser Bereitschaft, sich den gegebenen Umständen im hohen Masse anzupassen und aus der jeweils gegebenen Situation den höchsten Nutzen zu ziehen, hat auch der Seelsorger zu rechnen. Er hat darin jedoch nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance zu sehen, insofern, dass sie sich auch seinem Einfluss offenen und nicht selten bereit sind, sich seiner pastoralen Führung ernsthaft zu 1. RICHTER, Horst-Eberhard: Patient Familie, Reinbeck bei Hamburg, 2. Aufl. 1972, S. 16. 2. DECHENE, Hans Ch.: Verwahrlosung und Delinquenz, München 1975, S.281. 3. HOFMANN, Theodor: Jugend im Gefängnis, München 1967, S. 176. 32