Folia Theologica 15. (2004)

Helmuth Pree: Das Gewissen vor dem Forum des Kirchenrechts

96 H. PREE I. Der Unterschied zwischen rechtlicher und moralischer Fallbeurteilung 1. Der Unterschied im Formalobjekt Während der sittliche Anspruch umfassend ist und sich auf das Verhalten des Menschen insgesamt, im privaten und geheimem wie im öffentlichen, bezieht, hat das Recht nur einen Ausschnitt aus der Welt des Sittlichen zum Gegenstand. Gegenstand des Rechts ist nur das zwischenmenschliche Verhalten, und auch das nur, insoweit es unter dem Aspekt der Gerechtigkeit (iustitia), als res iusta, Gegenstand der Gerechtigkeit zu sein vermag.4 Der Rechtscharakter ist durch das Formalobjekt der Gerechtig­keit bzw. des iustum, welches ex definitione durch die alteritas ge­prägt ist, bestimmt. Rechtsnormen sind folglich solche Sollensan- ordnungen (präskriptiver im Unterschied zu deskriptiver Natur), die eine gemeinschaftlich (öffentlich) verbindliche und sanktionier­te Verhaltensnorm, d. h. konkrete, justiziable Pflichten und Rechte statuieren. Im Unterschied zur sittlichen Inanspruchnahme des Menschen ist die rechtliche Verbindlichkeit nicht nur an materiale, sondern stets auch an formale Grundbedingungen geknüpft: Z. B. Zu- ständigkeits- und Verfahrensvorschriften. Daher enthält jede kon­krete Rechtsnorm prinzipiell ein Element der Dezision (Auswahl der Regelungsmaterie, Festlegung ihrer tatbestandlich-begriff- lichen Fassung) und einen Überschuss an Positivität. Was rechtmäßig ist, ist nicht eo ipso sittlich legitim. Eine rechtli­che Vorschrift (Erlaubnis, Gebot, Verbot) kann im Verhältnis zu dem im konkreten Fall im Gewissen erkannten Anspruch in einem konträren Gegensatz stehen (im Verhältnis von Gebot und Verbot), in einem kontradiktorischen Widerspruch (im Verhältnis von Ver­bot und Erlaubnis, z. B. staatliches Recht erlaubt die Ehescheidung, christliche Moral verbietet sie) oder sie entsprechen einander (ent­weder im Verhältnis Gebot und Erlaubnis oder Gebot zu Gebot). 4 „Iustitiae ea ratio est qua societas hominum inter ipsos, et vitae communitas continetur. Sed hoc importat respectum ad alterum. Ergo iustitita est solum circa ea quae sunt ad alterum.“ (S.Th. II.-II. qu. 58, art. 2). „Cum iustitia ae­qualitatem importet, semper ad alterum est“ (ibid, conclusio).

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